Beeplog.de - Kostenlose Blogs Hier kostenloses Blog erstellen    Nächstes Blog   


    Searching
 

Mittwoch, 15. August 2007

Kapitel VIII
Von dimitrikalaschnikov, 07:51

Draußen ist Freiheit, ein Glück, das keine Schranken kennt. Draußen ist Freiheit, weit fort von allem was uns trennt, beginnt, was man Leben nennt.“

Der Tanz der Vampire

----------------------------------------------------------------------------


Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Ich hatte mit jeder Faser meines Herzens darauf gehofft und der Heilung entgegengefiebert, doch sie trat nicht ein. Die Zeit heilte nichts, sie verging einfach nur. Stunde um Stunde, Tag um Tag zog an mir vorbei.

Seit damals glaube ich nicht mehr, dass die Zeit die Schmerzen jemals vergehen lässt. Sie bringt uns nur dazu, uns an sie zu gewöhnen. Und genau das tat ich.

Alles war wie jedes Jahr. Kaum hatte man sich an die Schule gewöhnt, musste man auch schon wieder an die Ferien denken. Sie rückten immer näher und näher. Eigentlich ein sehr angenehmes Gefühl, das zu wissen, doch es drang nicht bis zu mir vor.

Mittlerweile war schon der 10. Juli gekommen, was hieß, dass wir nur noch knappe 1 ½ Monate Schule hatten. Es wurde also langsam Zeit zu überlegen, wo ich meinen Urlaub verbringen wollte.

Eins stand für mich fest: Mit meinen Eltern wollte ich nicht mehr verreisen. Ich brauchte Abstand. Ich konnte ihnen nicht mehr in die Augen sehen ohne daran denken zu müssen, dass ich sie ständig belog und ihnen etwas vorspielte. Ich war dabei, auch ihnen den Sohn zu nehmen.

Außerdem wollte ich unbedingt Lous Freiheit kennen lernen. Wahrscheinlich versprach ich mir davon auch etwas Freiheit. Ich fühlte mich so eingeengt, dass ich kaum noch Luft bekommen konnte. Und dadurch, dass ich ihn mir zum Vorbild nahm, versuchte ich, wieder etwas Normalität in mein Leben zu bringen. Ich musste irgendwie wieder ins Gleichgewicht kommen.

Wie auch immer, Lou wollte alleine leben, also wollte ich es auch. Unabhängigkeit hieß jetzt mein Motto. Auch wenn ich es nicht in jeder Situation auslebte und auf so manche Annehmlichkeit doch nicht verzichten wollte.

Dazu kam, dass ich die Ferien schlicht und einfach nicht ohne ihn verbringen wollte. Eigentlich war das sogar der Hauptgrund für meine Entscheidung. Nicht alleine sein, und nur nicht die Kontrolle verlieren.

Aber was sollte ich dann tun? Zu Hause bleiben? Nein! Dann wäre ich wohl wahnsinnig geworden. Ich brauchte unbedingt eine Luftveränderung.

Also beschloss ich, Lou einfach zu fragen, ob wir nicht zusammen wegfahren wollten. Und diesen Beschluss setzte ich auch gleich am nächsten Morgen in die Tat um.


Es war Freitag und wir hatten Mathematik in der ersten Stunde. Unterricht bei Herrn Andersen hatte früher immer einen etwas brenzligen Charakter gehabt. Es hatte immer Spannungen gegeben wegen der Eskapaden unserer Klasse. Aber das hatte dem ganzen etwas Pfiff verliehen. Es half, den Morgen zu überstehen ohne einzuschlafen.

Doch das war jetzt vorbei. Schon seit einiger Zeit konnte Herr Andersen in den Raum kommen und seinen Unterricht beginnen, ohne sich jedes Mal aufregen zu müssen. Alle Tische standen so da, wie sie sollten. Keiner tanzte mehr aus der Reihe.

Das lag daran, dass sich mein Verhältnis zu meinen Klassenkameraden merklich abgekühlt hatte. Aber merkwürdiger Weise störte mich das nicht im Geringsten.

Es passte ihnen einfach nicht in den Kram, dass ich mich verändert hatte. Und es passte ihnen noch weniger, dass Lou jetzt an erster Stelle stand. Denn das tat er. Also hatte ich mich von ihnen abgesondert und fand ihr Benehmen mittlerweile nur noch kindisch. Ihre einfallslosen Späße konnten mich nicht mehr beeindrucken. Ich konnte gar nicht verstehen, dass ich auch einmal wie sie gewesen war. Dabei war das gar nicht mal so lange her.

Nur zu Max und Leon hatte ich noch richtig Kontakt. Zwar war es nicht mehr so wie Früher, aber wir sprachen viel miteinander und unternahmen auch ab und zu etwas zusammen.

Durch Verrat in den eigenen Reihen war der Krieg, der über Jahre angedauert hatte, also schließlich zugunsten der Lehrer entschieden worden. Dass es einmal dazu hatte kommen müssen, war mir insgeheim klar gewesen. Nur hätte ich nie gedacht, dass gerade ich der Verräter sein würde.


Lou kam leider erst so spät, dass ich vor der Stunde nicht mehr mit ihm sprechen konnte. Und ich wusste, dass er mir während des Unterrichts nicht vernünftig oder sogar gar nicht antworten würde. Das hatte er noch nie getan. Also musste ich wohl oder übel auf die Pause warten.

Die Stunde verging so langsam wie nie. Endlose Beweise und einschläfernde Erläuterungen wechselten sich mit trockenen Formeln und langweiligen Rechnungen ab. Endlich, endlich war sie vorbei! Ich machte mir innerlich in einem tiefen Seufzer Luft. Zehn Minuten Pause. Endlich!

Hey, Lou!“ Er hatte sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und gähnte genüsslich. „Hm?“ „Was machst du in den Ferien?“ „Ferien?“ „Ja, in den Ferien!“ „Nichts. Was sollte ich machen?“

Ich verdrehte die Augen. „Urlaub natürlich.“ „Urlaub?“ „Na, verreisen, wegfahren, Ferien machen. Urlaub eben!“ „Aha.“ „Jetzt sag nicht, dass du nicht weißt, was das ist! Das gibt’s doch nicht!“ „Natürlich weiß ich, was Urlaub ist.“ Gähn. „Und?“ Ungeduldig stieß ich ihn an und fing mir dafür einen kurzen aber umso strafenderen Blick ein. „Was, und?“ „Machst du Urlaub?“ „Urlaub?“ „Lou!“ Langsam wurde ich richtig wütend. Was sollte das?

Weiß nicht. Mal sehen. Vielleicht.“ Ich stöhnte. Wenn das so weiterging, würde diese Pause nicht ausreichen. Lou war heute anscheinend etwas merkwürdig drauf. Ich hasste es, wenn er so war. Warum sagte er mir nicht einfach, was er in den Ferien vorhatte? Das konnte doch wohl nicht so schwer sein, und mehr wollte ich ja auch gar nicht!

Lou, hör jetzt auf! Ich mein‘s ernst!“ Er grinste breit, aber ohne auch nur die Augen zu öffnen. Ich merkte, dass es ihm gerade einen höllischen Spaß bereitete, mich zu reizen. Was ihm ja auch perfekt gelang. Ich war geradezu allergisch auf diese Art der Konversation. Und das wusste er nur zu gut.

Ich bin doch schon im Urlaub. Jetzt, hier.“ „Wieso?“ „Na, ich bin verreist, hierher, um andere Länder und andere Menschen kennen zu lernen.“ „Ja. – Aber das ist doch egal! Ich will doch nur wissen, ob du in den Ferien schon was vorhast, oder nicht. Willst du wegfahren?“

Jetzt öffnete er ein Auge und blinzelte mich an. „Machst du gerne Urlaub?“ Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Ja. Natürlich. Wir fahren fast in jeden Ferien ein Mal zusammen weg.“

Das ist schade.“ „Was?“ Ich war verdutzt. „Dass ihr fast jede Ferien ein Mal zusammen wegfahrt.“ „Warum das denn?“ „Dann fahrt ihr diese Ferien wohl auch weg.“ Unsicher beobachtete ich ihn. „Und?“ „Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du schon was vorhast. Sonst hätten wir zusammen wegfahren können.“ „Aber – Idiot!“ Er grinste mich schief an und legte sich wieder zurück. Gegen meinen Willen musste ich lachen.

Da klingelte es. Die Pause war um. Und ich war ein bisschen sauer, weil ich dank Lous komischem Humor noch immer nicht vernünftig mit ihm hatte reden können. Aber gleichzeitig war ich auch unheimlich froh, dass er den gleichen Plan gehabt hatte wie ich. Wenn er das denn hatte...

Kaum zwei Minuten nachdem es geklingelt hatte, betrat unser allseits beliebter Direx Dr. Junker die Klasse. Er verkündete mit wahrer Trauermiene, dass Dr. Söldner leider mal wieder plötzlich erkrankt sei, und deshalb der Geschichtsunterricht entfallen würde. Was wir natürlich gar nicht so schrecklich fanden. Schließlich bescherte uns diese Tatsache gleich drei Freistunden und eine Woche ohne langweilige Daten.

Während alle anderen wie eine Horde Verrückter johlend über die Flure auf den Schulhof rannten, packten Lou und ich in aller Ruhe unsere Taschen und machten uns dann auf den Weg in die Innenstadt von Ludwin. Dort versorgten wir uns mit Süßigkeiten und Cola und legten uns im Park auf eine Wiese, mitten in die pralle Julisonne.

Bonbons lutschend und Schokolade essend nahm ich unser Gespräch wieder auf.

Wegen dem Urlaub...“ „Hm?“ „Du hast also noch nichts vor?“ „Nein. Du?“ „Nein. Ich wollte dich eben fragen, ob wir nicht vielleicht zusammen irgendwohin fahren wollen. Was du wohl bemerkt haben dürftest.“

Lachend stieß er mich gegen die Schulter. „Ach was. Hab‘ ich nicht. – Und an was hast du gedacht?“ „Ich weiß nicht. Schlag was vor!“ „Wie wäre es denn mit Ithaka? War lange nicht mehr da. Ithaka auf Naxos?“ „Ithaka? Kenn ich gar nicht.“ „Ithaka ist der Name einer abgelegenen Farm auf Naxos, die einem Freund von mir gehört. Er heißt Jan. Jan Jöran van Draag. Er züchtet da Pferde und Hunde.“

Und davon kann er leben?“ Zweifelnd sah ich Lou an. Er lachte. „Nein, natürlich nicht. Das ist nur sein Hobby. Soviel ich weiß, hat er auch noch nie ein Tier verkauft. Er sagt immer, die neuen Besitzer müssten ihn absolut zufrieden stellen. Und das hat noch nie einer geschafft.“

Und wovon lebt er?“ „Er ist Künstler. Er malt. Und ich würde sagen, er hat Erfolg damit. Und es macht ihm Spaß. Er ist sozusagen ‚Vollblutmaler’. Jan sagt immer, manchmal liege er die ganze Nacht draußen am Strand und schaue sich die Sterne an. Das inspiriert ihn.“ „Ist seine Farm denn nah am Meer?“ „Hm.“

Lou schwieg einen Moment, dann setzte er sich auf und begann zu erzählen. „Sie grenzt direkt daran. Sie ist riesig. Selbst eine kleine Bucht gehört noch mit dazu. Und ein großes Waldstück. Da laufen die Pferde tagsüber frei drin rum. Nachts kommen sie dann rein in die Ställe. Die Hengste jedenfalls. Es wäre einfach zu gefährlich, sie draußen zu lassen. Wegen Dieben, weißt du? Das sind echte Rassepferde. Maremmanos. Das ist ein Anblick, wenn die Pferde rein kommen!

Die Stuten dürfen auch draußen bleiben. Sie haben einen zusätzlichen Offenstall am Rand des Waldes. Das hat zwar Nachteile, weil man täglich ein paar Mal das ganze Gebiet durchkämmen muss um zu gucken, ob auch alles in Ordnung ist, aber den Tieren gibt es mehr Freiheit.

Von den Stuten kann in den Stall, wer will. Nur die Trächtigen holt Jan rein. Die anderen nicht. Aber obwohl sie nicht müssen, kommen abends meist ziemlich viele zurück auf den Hof. Jeden Abend, gegen acht Uhr, geht Jan mit seinen Leuten auf den Hof. Da stehen sie dann schon alle zusammen und warten darauf, dass sie in ihre Boxen gebracht werden. Sie werden noch gefüttert und danach ziehen ein paar Männer los, um die Hengste von den Koppeln zu holen. Die dürfen natürlich nicht mit den Stuten zusammen sein. Aber das solltest du sehen, wenn sie mit hocherhobenen Schweifen wie die Könige den Weg hinab und über den Hof tänzeln! Sie wittern die Stuten und werden unruhig. Deshalb kommen sie auch in einen separaten Stall.

Trotzdem, am besten ist es immer noch, wenn die Stuten auf den Hof zurück kommen. Wenn es viertel vor acht ist und du auf den Hof siehst, ist er völlig leer. Bis auf ein paar Hunde vielleicht. Du denkst dir: ‚Gut, die Pferde sind noch nicht da, dann kann ich mich auch noch fünf Minuten draußen in die Sonne setzen.’ Und gerade, wenn du die Tür öffnen willst, hörst du ein Brausen und Klappern. Du guckst vorsichtig raus, und plötzlich ist der ganze Hof voller Pferde. Bis zu fünfzig Stuten.

Manchmal, wenn ein Gewitter in der Luft liegt – Pferde wittern das ja früher als wir es merken – machst du die Tür auf, kommst aber nicht raus, weil da ein großes behaartes – Ding steht.

Mit den Hengsten ist es zwar anders – sie sind tagsüber auf Koppeln von Nachbargrundstücken untergebracht – aber die Stuten können sich auf dem ganzen Gelände frei bewegen. Und wenn dann ein Unwetter kommt, laufen sie schon mal zum Stall zurück und warten, dass man sie in ihre trockenen Boxen lässt. Es ist wirklich toll bei Jan. Einfach toll!“

Er seufzte und ließ sich wieder zurück fallen. Dann schloss er die Augen und schwieg. Ich war etwas erstaunt. So verworren hatte Lou noch nie gesprochen. Er schien richtig begeistert zu sein. Entweder diese Farm, dieses Ithaka musste wirklich etwas besonderes und sehr schönes sein, oder – ja, oder was? Sie schien ihm etwas zu bedeuten. Freiheit?

Ich griff nach meiner Cola, stieß ihn an und hielt ihm, als er die Augen öffnete, seine vor das Gesicht. „Na dann, auf unsere Ferien auf Naxos. Bei Jan!“ Wir stießen an, und die Sache war abgemacht.


Mittags, als ich wieder nach Hause kam, ging ich zu meiner Mutter in die Küche. Sie stand gerade am Herd und bereitete das Essen vor.

Vorsichtig eröffnete ich ihr, dass ich dieses Jahr mit Lou verreisen wollte. „Schön! Dann fahren wir zu viert!“ meinte sie daraufhin. Sie hatte es verstanden, aber sie wollte es nicht verstehen. Das wusste ich, und ich hatte Angst davor, wie es weitergehen sollte.

Nein, Mom, ich möchte mit Lou alleine fahren,“ sagte ich, und es tat mir weh. Dieses ganze Gespräch fiel mir schwer. Es quälte mich.

Ach so.“ Sie drehte sich weg, senkte den Kopf und begann geschäftig in ihrer Suppe herum zu rühren. „Mom, das – das ist nicht böse gemeint! Aber, guck mal, ich bin jetzt schon fast 20. Ich bin kein kleines Kind mehr.“

Sie wischte sich verstohlen über die Augen. „Mom, ich – jetzt sag doch auch mal was! Bitte, Mom!“ Sie sah mich an und zu meinem Schrecken weinte sie. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie jemals so weinen gesehen zu haben.

Mitja, du bist so – so anders geworden. So schrecklich – ich weiß auch nicht. Weißt du, vor einem Monat, als Kai noch lebte, warst du noch mein fröhlicher, kleiner Junge! Was ist passiert? Ist es noch wegen Kai?“

Ihre Worte versetzten mir einen tiefen Stich. Kai. Mom wusste es nicht. Sie kannte das Geheimnis dieses fremden Jungen nicht. Und meines auch nicht.

Kai. Die Gedanken an ihn drängten sich wieder in mein Hirn. Mit aller Macht verbannte ich sie.

Mom, ich möchte nicht darüber reden, okay?“ „Oh, Mitja, es ist wegen ihm, nicht wahr? Natürlich ist es das.“ „Mom, bitte! Ich will nicht! Mir – mir geht es gut!“ Damit belog ich sie, genau wie ich auch mich selbst und alle anderen belog.

Wirklich? Geht es dir wirklich gut?“ „Ja, Mom.“ Plötzlich war sie sehr gefasst. „Das ist schön. Und du möchtest wirklich nicht mit uns in den Urlaub fahren?“ „Nein, Mom. Sei bitte nicht böse.“ „Oh Mitja, du hast dich so verändert! Früher hättest du mich nie so gebeten, dir nicht böse zu sein. Nein, mein Junge, ich bin dir nicht böse. Wie könnte ich! Ich möchte doch nur, dass du glücklich bist. Aber sag mir doch, ob wir etwas falsch gemacht haben. Irgend etwas. Bist du unglücklich?“

Ich sah sie einen Moment lang stumm an und nahm sie dann, nach langer Zeit das erste Mal wieder, ganz fest in die Arme. Das war typisch für sie. Ich hätte es wissen müssen, dass sie sich Vorwürfe machte.

Nein, Mom. Es liegt nicht an dir. Ich bin – glücklich. Wirklich!“ Und während ich das sagte, liefen mir Tränen die Wangen hinab.


[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Dienstag, 14. August 2007

Kapitel VII, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 08:43

Kai wurde am nächsten Tag, am Dienstag, den 3. Juni, beerdigt. Die Messe war für 11 Uhr angesetzt, mit anschließendem „zweiten Frühstück“ in einem nahegelegenen Gasthaus. Das hieß, dass ich direkt am zweiten Tag des neuen Halbjahres fehlen würde. Eine Tatsache, die mir eine schlaflose Nacht bescherte.

Ein einziger Schultag. Was für eine banale Sorge! Aber damals hatte sie für mich erste Priorität. Ich glaube, das war meine Art, mich von meinen wirklichen Sorgen abzulenken.

Ich hatte Angst vor dem Moment, in dem ich Kais Eltern gegenüberstehen und sie weinen sehen musste. Ich wusste nicht, was dann mit mir passieren würde. Ich hatte ihnen den Sohn genommen, in den sie so große Hoffnungen gesetzt hatten.

Eigentlich wollte ich nicht einmal mit zu der Beerdigung gehen, doch als ich Lou sagte, ich würde zu Hause bleiben, sah er mich sehr ernst an. „Das ist das Schlimmste, was du tun kannst!“ sagte er leise.

Und irgendwie war das auch schon genug um mich zu überzeugen. Vielleicht lag es daran, dass ich nur jemanden gebraucht hatte, der mir sagte, was zu tun war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass gerade Lou mir das sagte. Ich vertraute ihm. Besonders jetzt, nachdem er in der Nacht da gewesen war. Außerdem besaß er diesen Blick, diesen besonderen Blick, der mir sagte, dass er wusste, was richtig war.

Also ging ich am Dienstagmorgen mit meinen Eltern zum Friedhof. Ob Lou auch da war, weiß ich nicht. Ich vermute es, aber bemerkt habe ich ihn nicht. Ich habe niemanden außer meinen Eltern, denen von Kai und seinen Bruder Olliver wahrgenommen. Und ich habe Lou später auch nie danach gefragt.

Die Messe vor der Bestattung war relativ kurz, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Als wir zum Grab gingen, war kaum ein Auge noch trocken. Ich selber weinte nicht.

Ich sah nur die anderen an, diese schattenhaften Gestalten, die für mich keine Gesichter mehr hatten. Keiner von ihnen wusste es. Erschrocken stellte ich fest, dass ich beinahe laut gelacht hätte. Es war zu verrückt. Sie alle wussten es nicht, obwohl sie dachten, sie hätten Kai gekannt. Er war für sie eine vertraute Person.

Aber ich, der ich es wusste, Kais Geheimnis kannte, ich wusste gerade deshalb, dass ich ihn nie gekannt hatte. Der Junge dort im Sarg war für mich fremder als jeder Fremde. Und um fremde Menschen weint man nicht.

Als wir am Grab standen, schauten alle stumm zu Boden. Nur ich nicht. Ich sah dem Pfarrer direkt ins Gesicht. Verwirrt blinzelte er mich einen Moment lang an. Dann sagte er langsam: „Mein Leben war glücklich. Denn ich war nicht allein. Ich hatte eine Mutter, einen Vater, einen Freund.“ Er stockte und musterte mich noch einmal irritiert.

Es gab immer jemanden, der da war. Jemanden, der mir half, als ich Hilfe brauchte. Der an meinem Bett saß, als ich krank war. Der mich tröstete, als ich traurig war. Der wachte, als ich Angst hatte, einzuschlafen. Der mich in den Arm nahm, als ich mich alleine fühlte. Der mich liebte. Und der weinte, als ich starb.“

Ich verstand nicht, wie man so reden konnte. Es ekelte mich an und mir wurde schlecht. Wenn das alles wahr gewesen wäre, wenn der Junge, dieser tote Junge da, so empfunden hätte, dann wäre es nie so weit gekommen. Dann würde keiner von uns jetzt hier sein.

Warum sagte denn hier niemand die Wahrheit? Warum sprach niemand laut aus, wie es wirklich war? Dass Kai uns alle verraten hatte. Und dass wir ihn wohl auch alle verraten hatten. So oft. Die Stille lähmte mich und ich hatte Angst, über diesen ganzen Irrsinn tatsächlich in lautes Gelächter auszubrechen.

Irgendwann merkte ich, dass Olliver mich die ganze Zeit hindurch anstarrte. Dass er, wenn wir uns ab und zu einmal zufällig trafen, an mir hing wie eine menschliche Klette, war ich schon gewohnt. Ich hatte es akzeptiert, seit ich das erste Mal bei Kai zu Hause gewesen war. So war Olli nun einmal. Und auch jetzt wollte ich sein Verhalten einfach als die Spinnerei eines geistig Zurückgebliebenen abtun.

Doch dieses Mal schien noch etwas anderes dahinter zu stecken. Olli saß in seinem Rollstuhl, hatte die Arme merkwürdig von sich gestreckt und gaffte mich mit offenem Mund an. Dann griff er plötzlich nach meiner Hand, umklammerte sie und hielt mich mit eisernem Griff fest.

Was mit Kai passiert?“ lallte er. Ich starrte nur zurück. Ein unheimlicher Gedanke kam mir. Was, wenn...

Was mit Kai passiert?“ brüllte er aufgebracht und zerrte an meinem Arm. Ich versuchte mich loszumachen, aber es ging nicht. Ich sah ihm ins Gesicht und war mir plötzlich sicher, dass ich mit meiner Vermutung Recht gehabt hatte. Olli wusste es. Er wusste alles.

Die anderen sahen zu uns hinüber, aufgestört in ihrer Andacht durch den wütenden Schrei eines 25jährigen Kleinkindes. Eines Kleinkindes, das der behinderte Bruder des Jungen war, den sie hier zu Grabe trugen, und das trotz seiner Schwäche mehr gesehen, gehört und verstanden hatte, als sie alle zusammen. Als ich.

Kais Vater beugte sich zu seinem Sohn und versuchte ihn zu beruhigen. Aber Olli hatte schon verstanden. Er wusste, dass auch ich in das Geheimnis seines Bruders eingeweiht war und hatte sich dadurch die Bestätigung für seine eigenen verworrenen Vorstellungen geholt. Kai war etwas besonderes gewesen, genau wie er. Er ließ mich los und weinte nur noch leise in sich hinein.

Es tut mir Leid, Dimitri,“ flüsterte Kais Mutter. Ich drückte ihr die Hand. Sie zog mich neben sich, und während der Pfarrer noch ein paar tröstende Worte sagte, wurde Kais Sarg langsam in die Grube gesenkt. Endlich.

Kais Mutter warf weinend eine Rose hinein, sein Vater drückte mir eine Zweite in die Hand. Aber ich rührte mich nicht. Die Blume fiel zu Boden.

Ich starrte auf den Sarg, ohne dass ich sagen könnte, ob ich ihn überhaupt sah. Ich nahm nichts um mich herum wirklich wahr. Und auch, als alle anderen schon längst gegangen waren, stand ich noch immer da und sah unbeteiligt dabei zu, wie die Totengräber ihre Arbeit verrichteten.

Schließlich legte mein Vater mir seinen Arm um die Schulter und zog mich fort. Ich warf noch einen letzten Blick zurück und konnte sehen, wie das letzte sichtbare Stück des Sarges verschwand. Und mit ihm verschwanden auch meine Erinnerungen an Kai und unsere Freundschaft in diesem kalten Grab.


Als wir in der Gaststätte ankamen, waren alle anderen schon da. Ich wünschte mir, wir wären nie hierher gekommen. Ich stand in der Tür und war drauf und dran, wieder umzukehren und nach Hause zu gehen.

Ich hörte Kais Mutter weinen. „Warum? Warum nur?“ Sie kam auf mich zu. Ich hatte das Gefühl, ihr etwas sagen oder sie trösten zu müssen.

Ich –“ „Mitja, was ist denn nur passiert?“ Ich sah in ihr verzweifeltes Gesicht, sah ihre Tränen und ihren Schmerz, und war kurz davor, ihr alles zu sagen, ihr die Antworten zu geben, die sie wollte.

Doch dann flüsterte sie leise: „Ich wusste, dass er in letzter Zeit oft traurig war. Mein Baby, mein kleiner Junge. Aber er hätte doch nur endlich ein nettes Mädchen finden müssen, nicht wahr? Dann wäre alles wieder gut gewesen.“

Sie sah zu Olliver hinüber, der in seinem Rollstuhl saß und zufrieden schmatzend ein Stück Kuchen aß. „Er war doch ein ganz normaler Junge,“ sagte sie noch.

Da wusste ich, dass die Wahrheit ihr nicht helfen würde. Sie würde sie nur noch mehr schmerzen, weil sie ihr zeigen würde, dass sie schon seit vielen Jahren nur noch einen Sohn gehabt hatte. Und wieder wusste ich, dass ich niemals etwas würde sagen können.

Sie haben Recht. Es tut mir Leid.“ Ich drückte ihr noch einmal die Hand, drehte mich herum und ging mit gesenktem Blick hinaus. Die Tür schlug hinter mir zu und die warmen Strahlen der Sonne empfingen mich im Freien.

Still stand ich da und ließ sie meine Tränen trocknen. Mein Herz schrie Gott an und versuchte vergeblich zu verstehen, wie er so ungerecht sein konnte. Doch Gott antwortete nicht.


Es war vorbei. Das Kapitel ‚Kai’ war in dem Buch, das sich mein Leben nannte, abgeschlossen. Lou sprach mich zwar später noch ein paar Mal auf ihn an, doch ich reagierte nie darauf. Und schließlich ließ er mir dann irgendwann meinen Willen.

Ich konnte auf seine Gesprächsversuche einfach nicht eingehen. Ich konnte ihm nicht antworten. Denn ich kannte keinen Kai mehr. Niemanden, der mein Freund, mein Blutsbruder gewesen war. Mit dem ich alles geteilt hatte. Er hatte nichts mit mir geteilt.

Was sollte ich denn noch sagen? Es gab keinen Schatten mehr an meiner Seite, keinen ständigen Begleiter. Keinen Kai. Er hatte mich sitzen lassen. Warum also darüber nachdenken, wo es mir doch so weh tat? Es war vorbei.

Pünktlich mit dem neuen Halbjahr begann für mich ein neues Leben.


In den nächsten Wochen verbrachte ich noch mehr Zeit mit Lou. Jede freie Minute war ich mit ihm zusammen. Wir stellten fest, dass er Tennis spielte, genau wie ich. Also meldeten wir uns im örtlichen Club an und begannen, regelmäßig zu trainieren.

So was hatte ich schon lange nicht mehr getan. Meine Eltern wunderten sich über die plötzlichen Veränderungen in meinem Verhalten. Sie wussten zwar, oder ahnten es zumindest, dass Kai und sein Tod dahinter steckten, doch sie verstanden die Zusammenhänge nicht. Sie wunderten sich, wie diese Veränderungen mir helfen konnten. Aber sie ließen mich in der Hoffnung darauf, dass sie es taten, ohne Widerspruch meinen neuen Weg gehen. Und da war noch so vieles mehr, das neu war.

Nie hatte ich mich zum Beispiel so sehr auf eine bestimmte Person fixiert wie jetzt auf Lou. Ich war kaum noch zu Hause, und wenn, dann war er meistens bei mir. Aber seltsamer Weise wurde es uns nie langweilig.

Mir selbst fiel unser ständiges Zusammensein am Anfang nicht einmal auf. Es kam mir selbstverständlich vor. Solange ich mit Lou zusammen war, musste ich nicht so sehr an Kai denken. Außerdem verschonte er mich mit diesen widerlichen, mitleidigen Blicken, die alle anderen mir immer hinterher schickten.

Also war es doch klar, dass ich Lou am liebsten immer um mich herum hatte. Denn wenn wir nicht zusammen waren, wenn ich alleine war, fühlte ich mich einsam und verlassen. Ich musste stundenlang über alles nachdenken und bekam richtige Angstausbrüche, wenn ich nur an die Zukunft dachte und daran, was noch alles passieren konnte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das mich immer erfasste. Ich konnte es damals, und kann es auch heute noch immer nicht richtig erklären.

Es war jeden Morgen das gleiche. Mein Wecker klingelte, und sobald ich wach war, bekam ich Panik. Ich wusste, wenn ich mich jetzt erhob, jetzt diese warme Höhle verließ, nur um nach draußen, in die kalte, feindliche Welt zu gehen, würde es mich wieder zu fassen kriegen. Es würde mich irgendwann irgendwo überraschen, gerade dann, wenn ich am wenigsten damit rechnete, würde mich hinterrücks überfallen, grausam mit seinen kalten Händen packen und tief, immer tiefer in mein Herz eindringen.

Ich wusste es und ich fürchtete mich davor. Jeden Morgen von neuem. Vor dem Moment, in dem es mir schier den Boden unter den Füßen wegziehen würde, es mich ohne erkennbaren Grund in seinen Würgegriff nehmen und meine Kehle mit seinen dürren Klauen fester und immer fester zudrücken würde. Und dennoch erhob ich mich jeden Morgen und tat, was ich nun einmal tun musste. Ich stellte mich dem täglichen und doch stets neuen und unbekannten Kampf gegen eine Gefahr, die ich nicht verstehen konnte.

Aber bald wusste ich, dass ich, war ich allein, angreifbarer als in Gesellschaft war. Ich konnte mich nicht ablenken und hatte nichts und niemanden, auf den ich meine Aufmerksamkeit richten konnte.

Dieser Schutz half zwar auch nicht immer, aber manchmal. Und dafür brauchte ich Lou. Als Stütze, als Hilfe, als ‚Notanker’. Auch wenn ich es nicht von Anfang an wusste.

Irgendwann fragte Dad mich einmal beim Abendessen, nachdem ich mal wieder den ganzen Tag bei Lou gewesen war: „Sag mal, Mitja, was macht ihr zwei eigentlich den ganzen Tag?“ „Ich weiß nicht. Nichts, wieso?“ Ich wusste es wirklich nicht. „Na, wird euch das denn nicht irgendwann einmal langweilig? Geht ihr euch nicht irgendwann auf den Geist? Wenn ihr euch jeden Tag seht?“

Dad! Nicht schon wieder!“ Er hob abwehrend die Hände. „Ist ja schon gut, ist ja schon gut! Ich bin ja gar nicht dagegen! Nein, wirklich! Es ist völlig in Ordnung! Und es ist wunderbar, dass ihr euch so gut versteht und so oft trefft! Es interessiert mich nur einfach, weil ich es erstaunlich finde, dass ihr euch nicht langsam furchtbar auf die Nerven geht!“

Überrascht stellte ich fest, dass er Recht hatte. Mit Leon oder Max konnte ich nie so lange zusammen sein, ohne dass sie mich gleich unheimlich nervten. Aber das war mir noch nie wirklich aufgefallen. Und ich wusste keine Erklärung, wieso es bei Lou anders war.

Wir machen nichts besonderes. Manchmal kommen Leon und Max vorbei und wir spielen Skat oder pokern. Manchmal gehen wir auch schwimmen oder Tennis spielen. Oder wir machen eine Radtour an den Fluss. Oder wir sitzen einfach nur da und tun nichts. Nicht einmal reden.“

Ich zuckte mit den Schultern und erwiderte Dads Blick. Er betrachtete mich prüfend. Ich gab mir alle Mühe, ihm Stand zu halten. Ich konnte nicht sehen, was hinter seiner Stirn vor sich ging. „Ach so!“ sagte er dann nur, lächelte leicht und widmete sich wieder seinem Essen.


Das Wochenende verbrachten Lou und ich oft den ganzen Tag draußen. Wir fuhren an den See, außerhalb von Ludwin, und gingen abends irgendwohin um unseren Spaß zu haben.

Keine noch so kleine Party war sicher vor mir. Und Lou zog immer still nickend mit. Obwohl ich mittlerweile der Überzeugung bin, dass es eher ein Kopfschütteln als ein Nicken war. Er war ganz und gar nicht einverstanden mit dem, was ich da tat. Aber er begleitete mich trotzdem. Das war wohl so seine Art‚ mich zu beschützen, vor mir selbst und meinen nächtlichen Ausschweifungen, das Verhalten eines großen Bruders.

Ein großer Bruder. Vielleicht ist es genau das, was er in dieser Zeit für mich war. Mein vernünftiger großer Bruder, der aufpassen musste, dass ich keinen allzu groben Unfug machte und dass mir auch ja nichts passierte. Mein seufzender, kopfschüttelnder Bruder.

Ähnlich unzufrieden waren meine Eltern. Die sahen allem mit äußerst gemischten Gefühlen zu. Es gefiel ihnen ganz und gar nicht, dass ich mich so absonderte und sie mich nun gar so manches Wochenende nur noch morgens für ein paar Minuten sahen. Aber sie ließen es zu, denn es erleichterte sie, dass ich in Lou einen netten neuen Freund gefunden hatte, der mir half, Kai zu vergessen. Und der ein wachsames Auge auf mich zu haben schien, wie meine Mutter bemerkte. Und das reichte ihnen als Grund, mich gewähren zu lassen.


Unsere Unternehmungen fingen schon am ersten Wochenende nach Kais Begräbnis an. Es war ein Freitagmorgen vor der Schule, und meine Mutter fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, am Sonntag auf den Flohmarkt zu gehen.

Du könntest ein paar deiner alten Sachen verkaufen. Dann hättest du wieder etwas mehr Platz in deinem Zimmer.“

Ich denke, eigentlich wollte sie mich nur ablenken. Das war zwar nicht nötig, aber was macht das schon? Es war nett gemeint und konnte schließlich auch Spaß machen.

Ich stimmte zu. Zwar brauchte ich weder den Platz, wie sie gesagt hatte, noch die Ablenkung, aber der Spaßfaktor erschien mir sehr hoch. Allerdings wollte ich es nicht alleine machen, und deshalb fragte ich später in der Schule, wie konnte es anders sein, Lou, ob er nicht mitkommen wollte.

Hast du vielleicht Lust, am Sonntag mit mir auf dem Flohmarkt ein paar alte Sachen zu verkaufen?“ Er sah mich so komisch an, dass ich nicht wusste, ob er es idiotisch oder toll fand.

Deshalb beeilte ich mich zu sagen: „Ich weiß, das ist nicht die normale Art, wie Jugendliche ihre Wochenenden verbringen, und du wirst das wohl erst recht nicht so tun, aber ich dachte, es würde vielleicht mal – Spaß machen?“ Unsicher wartete ich auf eine Antwort und atmete erleichtert auf, als sie „Klar, gerne. Warum nicht?“ hieß.

Wir gingen also am Sonntag auf den Flohmarkt, mit so vielen Sachen bepackt, wie wir nur auftreiben konnten. Wir bauten alles auf und machten es uns dann auf mitgebrachten Klappstühlen bequem. Das Radio lief im Hintergrund, Kunden kamen und gingen, kauften oder betrachteten unsere Sachen nur, und wir unterhielten uns über Gott und die Welt.

Es war ein sehr schöner Tag. In seiner Anormalität so normal. Wenn ich vorher noch Hemmungen im Umgang mit Lou gehabt hatte, was in mancher Hinsicht tatsächlich der Fall gewesen war, so waren sie nach diesem Sonntag verschwunden. Er war plötzlich ‚realer’ geworden und kein Prinz mehr, kein ‚Herrscher’, nur noch Lou, ein Freund aus meiner Klasse. Der Freund.


Seit diesem ersten Wochenende kam ich mit jedem meiner Vorhaben zu Lou, weil ich mir jetzt sicher war, dass er nicht überheblich oder abweisend reagieren würde.

Und tatsächlich hat er niemals einen meiner Pläne abgelehnt, mochten sie auch noch so idiotisch gewesen sein. Er kam immer mit und meldete nur einmal Kritik an, als ich vorschlug, man könnte ja auch mal seinen Vater besuchen.

Ich glaube, das ist keine so gute Idee. Ein anderes Mal vielleicht. In Ordnung?“

Damit war die Sache erledigt, da es mir sowieso nicht sonderlich wichtig war, seinen Vater kennen zu lernen. Was brachte mir das schon? Lou sprach so gut wie nie über ihn, und alles, was ich wusste, war, dass er der Prinz von Ljuba war. Und diese Information reichte mir vorerst völlig.


[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Montag, 13. August 2007

Kapitel VII
Von dimitrikalaschnikov, 09:12


Hey God – tell me what the hell is going on? Seems like all the good shits gone. It keeps on getting harder hanging on. Hey God, there’s nights you know I want to scream. These days you even harder to believe. I know how busy you must be, but hey God…Do you ever think about me?”

Jon Bon Jovi

----------------------------------------------------------------------------


Als meine Eltern am nächsten Morgen nach Hause kamen, waren sie bestürzt und schockiert. Meine Mutter machte mir zuerst Vorwürfe, dass ich sie nicht angerufen hatte. Als ich aber nicht antwortete, kam sie mit Tränen in den Augen auf mich zu und versuchte, mich in den Arm zu nehmen.

Doch ich stieß sie von mir. Ich konnte keine Nähe ertragen. Für einen kleinen Moment war ich sogar auf dem besten Weg so zu werden wie Lou.

Aber dann sah ich Moms Gesicht und die Angst und den Schrecken darin, und es tat mir Leid, sie abgewiesen zu haben. Doch ich konnte nicht anders. Es tat so unendlich weh.

Mom, ich – ich kann jetzt nicht.“ Damit drehte ich mich um, rannte die Treppe hinauf und schloss mich in meinem Zimmer ein.

Ich war völlig fertig. Nicht nur psychisch, auch physisch. Meine Mutter kam hinter mir her und stand wohl zehn Minuten vor meiner Tür. Immer wieder rief sie meinen Namen, doch ich antwortete ihr nicht einmal. Ich war die ganze Nacht über aufgewesen und fühlte mich jetzt, als wäre ich unter die Räder eines Lkws gekommen.

Ich hatte bis in den frühen Morgen hinein draußen im Garten unter unserem Baum gesessen und gegrübelt. Mir waren sehr viele, oft auch absurde Gedanken durch den Kopf geschossen. Zum Beispiel hatte ich plötzlich wieder daran denken müssen, was mein Großvater mir vor Jahren einmal gesagt hatte:

Das Leben ist wie eine Parkbank, mein Junge! Menschen kommen und gehen an dir vorbei. Manche halten einen Moment an, setzen sich zu dir und verbringen etwas Zeit mit dir. Aber schließlich stehen sie alle einfach wieder auf, vielleicht wollen sie es, vielleicht müssen sie es aber auch, und gehen weiter, lassen dich alleine sitzen. Kaum einer bleibt länger bei dir als ein paar kurze Minuten.“

Das war ein paar Tage nach dem Tod meiner Großmutter gewesen. Ich hatte meinen Großvater nicht angesehen, denn sonst hätte er mein Unverständnis und meine Skepsis auf meinem Gesicht entdecken können. Und das wollte ich nicht, weil immer alles, was mein Großvater jemals gesagt hatte, wahr und für mich so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz gewesen war.

Auch jetzt war es nur das kindliche und relativ unbeschwerte Gemüt eines 6jährigen Jungen, der den Sinn dieser Worte nicht richtig begreifen konnte, das mich zweifeln ließ.

Doch ich glaube, in dieser Nacht, fast 14 Jahre später, verstand ich meinen Großvater. Ich war auch einfach sitzen gelassen worden. Und ein neues Gesetz war geschrieben.


Am Nachmittag kamen zwei Polizisten zu uns. Sie fragten mich, ob ich von irgendwelchen Problemen wüsste, die Kai gehabt hätte. Als ich verneinte, sah der eine Beamte mich skeptisch an. Er glaubte mir nicht, und das gab er auch offen zu.

Sind Sie sicher, dass da nichts war? Seine Eltern haben angegeben, dass Sie der beste Freund des Verstorbenen waren. Und da wussten Sie von nichts?“ „Der beste Freund? Haben sie das gesagt? Ich weiß nicht, ob ich das war. Wirklich nicht. Es tut mir Leid, aber ich glaube, ich kann Ihnen nicht helfen.“

Ich hatte beschlossen, nichts zu sagen. Ich würde ihn nicht verletzen wie er mich verletzt hatte. Und außerdem – was sollte ich auch schon sagen? Die ganze Geschichte klang viel zu sehr nach der Story eines mittelmäßigen Groschenromans.

Und ich wusste, auch Lou würde niemals etwas verraten. In der letzten Nacht hatten wir einen Pakt geschlossen, an den wir uns beide halten würden.


Ich weiß nicht mehr, wie ich es anstellte, aber irgendwie schaffte ich es, Kai schon in den nächsten Tagen zu vergessen. Oberflächlich jedenfalls. Ich verbannte einfach jeden Gedanken an ihn aus meinem Gehirn. Es tat mir zu weh, mich mit seinem Tod und meiner Schuld daran auseinandersetzen zu müssen.

Nur in der Nacht, wenn ich schlief und träumte, erstand er wieder von den Toten auf. Es waren immer schlimme, bedrückende Alpträume, aus denen ich meist mit einem erstickten Schrei und schweißgebadet erwachte. An einen erinnere ich mich noch sehr gut. Ich träumte ihn Jahre hindurch immer wieder und er war einer der schrecklichsten:

Ich gehe mit Kai über einen Platz oder eine breite Straße, ich weiß es nicht genau. Ich habe die Hände in den Hosentaschen und schaue auf den Boden, und obwohl ich Kai nicht sehe, weiß ich, dass er direkt neben mir hergeht.

Er sagt etwas, ich antworte ihm, und plötzlich schreien wir uns an. Wir bleiben wild gestikulierend stehen, und aufgebracht streitend werfen wir uns gegenseitig Tausende unwichtiger Kleinigkeiten vor. Schließlich brülle ich: „Wie konntest du mir das nur antun!?! Ich hasse dich!“ Und er schweigt nur noch.

Ich weiß selbst nicht, was ich meine, denn Kai lebt ja und hat gar nichts getan. Dann drehe ich mich einfach um und gehe weg. Kai bleibt zurück. „Verzeih deinem Bruder!“ Er flüstert, aber ich höre es trotzdem. Die Luft scheint erfüllt zu sein von seinen Worten. „Nein! Niemals!“ brülle ich zurück. Ich sehe mich nicht einmal nach ihm um.

Und plötzlich ist da, wie als Reaktion auf meinen Ruf, ein riesiger Lärm hinter mir. Ich möchte wegrennen, aber es geht nicht. Gegen meinen Willen drehe ich mich dorthin um, wo der Krach herkommt, und sehe das alte Haus vor mir, in dem ich mit Kai früher oft gespielt habe. Es ist wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Dann kracht es noch einmal unheimlich, und das ganze Gebäude stürzt in sich zusammen. Es bleibt nichts übrig als eine Unmenge an Staub.

Und in diesem Moment überkommt mich eine so furchtbare Angst, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Ich stehe vor diesem Trümmerfeld, unfähig, mich zu rühren, denn ich weiß, dass Kai in das Haus hineingegangen ist. Ich habe es nicht beobachtet, aber ich weiß es einfach. Ich spüre es mit jeder einzelnen Faser meines Körpers.

Regungslos starre ich dieses Chaos aus Dreck, Steinen und Beton an. Dann plötzlich taucht in dem Staub eine Gestalt auf. Ich kann sie nicht deutlich erkennen, aber ich weiß, dass es Lou ist. Es sieht so aus, als würde er in einem Nebel stehen, der sich langsam verzieht.

Unbeweglich steht er da, wie eine Statue. Dann hebt er langsam den Arm. Er deutet irgendwohin, und als ich seinem Arm mit meinem Blick folge, sehe ich Kais Gestalt durch die Staubwolken auf mich zu wanken. Sofort ist Lou, ist seine Anwesenheit völlig vergessen. In meinem Kopf ist nur noch Kai, mein Freund Kai, der mir da entgegen kommt und der mich bald erneut verlassen wird. Ich weiß, dass er es tun wird. Kai wird wieder gehen. Er wird mich wieder verraten.

Verzweifelt will ich ihm entgegen rennen, will bei ihm sein, bevor es zu spät ist, wenigstens dieses eine Mal – aber ich komme nur im Zeitlupentempo vorwärts, egal wie sehr ich mich auch bemühe. Dann endlich bin ich da, schließe Kai in die Arme und weine, weine, weine.

Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!“ Ich spüre, wie er erschlafft und sein Griff sich lockert. Aber ich lasse nicht los, ich halte ihn fest, mein Gesicht an seinen Hals gepresst, mit der rechten seinen Kopf stützend, mit der Linken seinen leblosen Körper an mich drückend.

Ich schaue noch einmal auf und sehe durch meine Tränen hindurch schemenhaft Lous Umrisse. Und dann wird alles dunkel. Alles ist fort, nur wir, mein Freund Kai und ich, nicht. Und da ist nichts mehr als Kälte um uns, Wärme zwischen uns und Tränen. Die Dunkelheit hüllt uns ein, die Kälte lässt mich erschauern, die Wärme nimmt mir die Luft zum Atmen und die Tränen, die Tränen schwemmen mich fort, wie ein tiefer, reißender Strom, in dem ich irgendwann ertrinken muss.


In Panik wachte ich jedes Mal auf. Ich brauchte immer ein paar Minuten, bis ich begriff, dass ich nur wieder geträumt hatte. Dann lag ich lange wach, weil ich mich nicht traute, mich wieder dem Schlaf und seinen Gefahren hinzugeben.

Einmal, ein einziges Mal nur, erzählte ich meiner Mom von meinen Träumen. Sie machte sich daraufhin unheimliche Sorgen, sprach mit Dad und meinte immer wieder: „Ich habe dir doch gleich gesagt, dass wir fachmännische Hilfe brauchen, Gabriel!“

Aber ich wehrte mich permanent dagegen, einen Psychiater aufzusuchen. Schließlich behauptete ich irgendwann, die Träume hätten aufgehört. Obwohl das nicht der Fall war. Ich wollte nur einfach endlich in Ruhe gelassen werden. Sie kamen wieder und wieder und wurden von Mal zu Mal schlimmer. Nächtelang lag ich wach und hoffte mit weit aufgerissenen Augen, nicht einschlafen zu müssen. Und wenn ich es dann doch tat, starb ich fast vor Angst.

Aber auch das alles gab sich mit der Zeit. Die Träume wurden wieder seltener, nahmen an Bedrohlichkeit ab und hörten schließlich bis auf wenige grausame Ausnahmen völlig auf.


Am Montag nach Kais Tod, am ersten Tag im neuen Halbjahr, ging ich gegen den Willen meiner Eltern in die Schule. Sie hätten es lieber gesehen, wenn ich zu Hause geblieben wäre oder etwas mit ihnen unternommen hätte. Sie wollten mich gerne im Auge haben. Aber ich ließ mich nicht halten.

Ich war einer der letzten in der Klasse. Normalerweise fuhr mein Vater mich jeden Morgen zur Schule, doch an diesem Morgen ging ich zu Fuß. Ich brauchte die Ruhe und die Zeit für mich. Der Schulweg bot mir einen kurzen Augenblick, in dem ich verschnaufen konnte. Ich ging das erste Mal zu Fuß und ich habe es auch nie wieder anders gemacht.

Als ich die Tür zu unserem Klassenraum öffnete, wurde es schlagartig still. Alle starrten mich an und keiner sagte einen Ton. Ich hasste diese Stille. Wie schwach und elend meine Mitschüler wirkten. Ich ließ meinen Blick verächtlich durch den Raum schweifen. Alle wichen mir aus.

Langsam bewegte ich mich auf meinen Platz zu und ließ mich nieder. Lou war noch nicht da. Ich fragte mich, ob er überhaupt kommen würde.

Doch da ging die Tür auf und er betrat den Raum. „Morgen.“ Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens er war normal. Er schien gar nicht zu merken, wie verlegen die anderen waren. Keiner außer mir antwortete ihm.

Lou kam auf mich zu, blieb kurz überrascht stehen, trat dann aber zu dem Tisch zu meiner rechten und setzte sich hin. Ohne es zu merken, hatte ich ihm Kais Platz eingeräumt.


[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Sonntag, 12. August 2007

Kapitel VI
Von dimitrikalaschnikov, 10:59

 
„Endlich Nacht, kein Stern zu sehn. Der Mond versteckt sich, denn ihm graut vor mir. Kein Licht im Weltenmeer, kein falscher Hoffnungsstrahl. Nur die Stille und in mir die Schattenbilder meiner Qual.”
Der Tanz der Vampire
----------------------------------------------------------------------------
 
Von weitem hörte ich das laute Schrillen einer Sirene. Blaue Lichter zuckten über den schwarzen Himmel. Ein Krankenwagen schoss auf unsere Einfahrt und hielt mit quietschenden Reifen vor unserer Haustür. Lou hatte ihn wohl gerufen, bevor er mich zu Kai gebracht hatte.
Als die Sanitäter mit einer Trage kamen, berichtete er ihnen, was passiert war und führte sie dann zu der alten Eiche. Ich blieb am Haus stehen und rührte mich keinen Schritt von der Stelle.
Es dauerte keine zehn Minuten, dann kam Lou zurück. Er zog mich zur Seite und drückte mir einen zerknitterten Zettel in die Hand. „Hier. Er hat ihn in meine Tasche gesteckt.“ Seine Hand war feucht, und als ich sie berührte um das Stück Papier entgegen zu nehmen, zog er sie schnell zurück.
Mit zitternden Fingern faltete ich den Zettel auseinander. Er war eng beschrieben. Ich erkannte Kais Schrift sofort.
‚Lou, es gibt keine Alternative. Ich habe die Zukunft gesehen. Aber in dieser Zukunft war kein Platz mehr für mich. Ich glaube, jetzt bist du dran. Ich bin wirklich sehr froh, dass du da bist. Du musst ihm etwas sagen. Ich kann es nicht selbst tun. Es geht nicht. Sag ihm, dass er nicht traurig sein soll. Sag ihm, dass ich es schon so sehr bin, dass es für unsere beiden Leben ausreicht.’
Das stand da. Ich las es wieder und wieder, und als ich endlich aufsah, war ich alleine. Lou war verschwunden. Ich zerriss den Zettel und warf die Schnipsel in den Mississippi.
Traurig. Ich war nicht traurig. Ich war wütend und verletzt. Vielleicht würde ich später traurig sein, aber das war das letzte, was ich wollte. Das hatte Kai sich nicht verdient. Dafür hatte er mich zu sehr enttäuscht.
 
Mit dem Tod meines Freundes fand verständlicherweise auch unsere Party ein jähes Ende. Ich schickte alle, die noch nicht von selbst gegangen waren, nach Hause.
Dann war ich endlich allein. Wieder war alles still. Auch in mir. So unheimlich still, dass ich am liebsten erneut laut losgeschrieen hätte. Aber ich tat es nicht.
Meine Eltern würden erst am Morgen wieder heimkommen. Und anrufen und bitten, dass sie früher kämen, wollte ich nicht. Es hätte mir ja doch nicht geholfen.
Ich wusste, ich würde jetzt keinen Schlaf finden können. Ich hatte sogar das Gefühl, als würde ich nie wieder schlafen können. Wie auch? Immer, wenn ich die Augen schließen würde, würde ich sein blasses Gesicht vor mir sehen und denken, er würde noch immer da unter dem Baum liegen. Doch das tat er nicht. Und irgendwie musste ich es mir selbst beweisen. Also ging ich noch einmal hinaus, dorthin, wo Kai gestorben war.
Ich stand lange da und dachte an nichts und alles. Ich kann nicht sagen, ob ich mittlerweile traurig war. Es war einfach so leer in mir und um mich herum, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, ob das alles Wirklichkeit oder vielleicht einfach nur ein ekelhafter Traum war.
Irgendwann überwältigte mich dieses Gefühl, diese Unsicherheit, die mich beinahe wahnsinnig machte. Und nur um zu wissen, ob ich selber überhaupt noch lebte oder vielleicht auch schon längst tot war, trat ich auf ein dichtes Brombeergebüsch zu. Ich griff hinein und wartete, was passieren würde. Ich wollte endlich diese erstickende Taubheit loswerden, die mich gefangen hielt. Ich wollte wieder frei atmen können. Aber es gelang mir nicht.
Zwar spürte ich die Dornen, die sich durch die Haut in meine Hand bohrten. Ich spürte die Schmerzen, die diese kleinen, spitzen Eindringlinge mir bereiteten, und ich wusste sehr wohl auch um die Schmerzen, die sie mir später noch zufügen würden. Morgen und vielleicht auch übermorgen noch, sofern es diese Tage überhaupt geben würde.
Doch das alles half mir nicht. Und mein Herz sagte mir, es würde auch niemals helfen. Die Taubheit würde bleiben.
Ich hatte von Leuten gehört, die Selbstverletzungen als einen Weg benutzten, psychische Schmerzen in physische umzuwandeln um sie so besser begreifen und verarbeiten zu können. Ich wusste auch, dass diese Methode außer Narben nichts brachte. Und jetzt hatte ich es selber erlebt.
Trotzdem ich das alles wusste, und trotzdem meine Hand höllisch weh tat, lockerte ich meinen Griff nicht. Im Gegenteil, ich packte immer fester zu und beobachtete fasziniert, wie das Blut aus dem Inneren meiner geballten Faust rann.
Dann riss ich meine Hand mit einem Ruck ein Stück zurück. Ich spürte, wie jede einzelne Dorne wie ein kleines Messer im Inneren meiner Hand Zelle für Zelle durchtrennte. Zerstörte. Leben abtötete.
Ich schrie beinahe laut auf vor Schmerz. Aber die Taubheit blieb. Nichts wurde klarer, nichts realer, nichts wirklicher. Und deshalb griff ich fester zu.
Ein unbändiger, unbestimmter Hass auf alles und jeden hatte mich ergriffen und verfolgte das Schauspiel mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen. Er kostete jede einzelne Sekunde des Schmerzes in vollen Zügen aus. Es war etwas in mir, das mich in seiner Gewalt hatte. Etwas, das mich um jeden Preis zerstören wollte. Und ich hatte Angst, dass es diesem Etwas schließlich auch gelingen würde.
Dann irgendwann war meine Hand genauso taub wie alles andere an mir. Ich spürte den Schmerz nicht mehr, den mir die Dornen zugefügt hatten. Und da gewann ich endlich die Kontrolle über meinen Körper wieder zurück.
Also ließ ich los und starrte meine Hand fassungslos an. Fassungslos einerseits darüber, was ich da gerade getan hatte, und andererseits auch darüber, dass ich tatsächlich blutete. Ich fühlte mich so tot und leer, dass es eigentlich nicht sein konnte. Das Blut floss langsam und in Schüben. Der rote Strom des Lebens. Der gleiche Strom wie bei Kai.
Ich begriff, dass es nicht helfen würde. Vorher hatte ich es zwar gewusst, irgendwo tief in mir, aber erst jetzt begriff ich es wirklich. Es würde weder meine Starre lösen, noch etwas ungeschehen machen können. Nichts und niemand würde das können.
Kai war fort. Kai. Der Freund, mit dem ich alles zusammen erlebt hatte, was man nur erleben kann. Mit ihm zusammen war ich das erste Mal im Schwimmbad gewesen. Mit ihm zusammen hatte ich Eishockey spielen gelernt. Mit ihm zusammen war ich das erste Mal im Kino und in der Disco gewesen. Er war dabei gewesen, als ich meine erste Freundin kennengelernt hatte.
Er war sogar mit auf die Beerdigung meiner Großeltern gegangen. Er hatte mir geholfen. Immer und bei allem. Genau wie ich ihm. Jedenfalls hatte ich das immer geglaubt.
Doch jetzt war er fort. Er hatte mich einfach alleine gelassen. Kai, mein trauriger Freund, der immer lächelte, wenn alle anderen lachten. Der selbst dann immer lächelte, wenn alle anderen weinten.
Das war nicht richtig gewesen. Das war nicht der Kai gewesen, den ich gekannt hatte. Seit wann hatte er das getan? Immer schon? Nein. Erst seit kurzem.
Warum hatte ich ihm nicht helfen können? Wenn ich ihm nicht hatte helfen können, wie sollte ich dann – wie sollte ich mir selbst dann jemals helfen können? Jetzt, wo ich nicht nur seinen, sondern auch meinen eigenen Schmerz tragen musste. Und das auch noch alleine.
Erneut überkam mich Angst, als ich mir meiner Schwäche bewusst wurde. Ich war wehrlos, dem Schmerz ohne Schutz oder Hilfe ausgeliefert. Kein Weg, ihn greifbar zu machen, kein Weg, ihm zu entkommen.
Während ich das alles begriff und verzweifelt gegen meine Panik anzukämpfen versuchte, trat ich langsam bis an den Baum heran. Meine Hand pochte wild und ich ballte sie zu einer Faust.
Ich ließ die Stille auf mich wirken. Langsam wich die Angst und nur die Niedergeschlagenheit blieb. Ich versuchte voller Trauer, aber auch voller Dankbarkeit an alles zurückzudenken, was ich je mit Kai zusammen unternommen und erlebt hatte. So, wie man es tun sollte. Doch es gelang mir nicht.
Ich hasste ihn. Er hatte alles zerstört. Aber ich, ich würde nicht so einfach aufgeben. Wenn er mir alles nehmen konnte, eines würde ich ihm nicht geben: Die gemeinsame Zeit und den Spaß, den wir gehabt hatten. Die Jahre, in denen er mein treuer Gefährte gewesen war.
Geliebt und gehasst. Die Erinnerung brannte in meiner Kehle und schnürte mir die Luft ab.
Vielleicht stand ich stundenlang so da. Vielleicht waren es auch nur ein paar Minuten. Beides ist möglich. Denn ich merkte nicht einmal, dass ich überhaupt noch vor dem Baum stand. Ich hatte eine einsame Reise in die Vergangenheit angetreten.
Ich kehrte erst zurück, als plötzlich Lou hinter mir stand. Er sagte nichts und ich drehte mich auch nicht um, aber trotzdem wusste ich, dass er da war. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken. Genau wie vorher den Blick von Kai.
Vorsichtig berührte ich die Rinde des Baumes. Meine Hand hinterließ eine feine Blutspur auf ihr. Zwei sich kreuzende Pfeile und die beiden Buchstaben K und D waren dort eingeritzt. Sie sind es, nebenbei bemerkt, auch heute noch.
„Hier haben wir uns vor Jahren verewigt. Und Blutsbrüderschaft geschlossen,“ sagte ich leise. Bei dem Gedanken daran musste ich lächeln. Ich wollte es nicht, aber ich musste.
„Er war Tonka, ich Sandee. Wir waren Krieger von feindlichen Stämmen. Deshalb durfte niemand etwas von unserem Pakt wissen.“ Natürlich hatte es dann doch jeder gewusst. Meine Eltern hatten geschimpft, seine auch, aber unsere Freunde hatten uns bewundert. Noch Jahre danach.
Ich schwieg und Lou schwieg auch. Ich dachte schon, er wäre nicht mehr da, oder vielleicht auch gar nicht da gewesen, als er mir seine Linke schwer auf meine rechte Schulter legte. Und es war, als hätte er damit einen unsichtbaren Mechanismus bei mir betätigt.
Denn plötzlich löste sich meine geistige Erstarrung und ich kehrte endgültig zurück in die Gegenwart, so als würde ich aus einem Traum erwachen. Ich realisierte langsam, was passiert war und auch, was das für mich bedeutete. Ich fiel in ein bodenloses, schwarzes Loch.
Eine Weile blieb es noch still und ich versuchte krampfhaft, alles irgendwie zu verarbeiten. Doch es war einfach zu viel und zu schwer für mich, und so hielt ich es schließlich nicht mehr länger aus.
„Warum, verdammt? Warum hat er das getan?“ Ich schrie Lou an, obwohl der ja gar nichts dafür konnte. Aber ich glaube, ich hätte in diesem Moment jeden angeschrieen. Selbst den Heiligen Geist höchstpersönlich.
Lou blieb ruhig. „Das müsstest du eigentlich selber wissen.“ „Ich weiß es aber nicht! Gar nichts! Ich verstehe es nicht! ‚Zu lange’! Es wären doch nur 2 ½ Jahre gewesen!“ „2 ½ Jahre können eine sehr lange Zeit sein.“ „Und wie lang ist sie jetzt für mich!?! Vielleicht noch 60 Jahre?“ „Dimitri.“ „2 ½! Deswegen bringt man sich doch nicht um!“ „Wenn man keinen anderen Ausweg mehr sieht. Und wenn man Angst vor dem Alleinsein hat.“ „Wieso Alleinsein? Er wäre doch nicht alleine gewesen. Er hätte doch neue Freunde finden können!“
Lou schüttelte stumm den Kopf. „Warum nicht!?!“ Ich schrie und hätte am liebsten irgend etwas kaputt geschlagen. Doch das interessierte ihn nicht.
„Neue Freunde. Sicher. Aber würdest du das auch sagen, wenn du von demjenigen, der dir am meisten bedeutet, der die Person im Mittelpunkt deines Lebens ist, getrennt werden solltest? Von der Person, um die sich alles dreht? Die du liebst? Ich denke nicht.“
Mit jedem Wort wurde Lous Hand etwas schwerer, und seine Anwesenheit anklagender. Auch wenn es wahrscheinlich nicht so gemeint war. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich verteidigen musste.
„Aber Kai hatte keine Freundin! Und auch niemanden, in den er verliebt war! Das hätte er mir gesagt! Ich war schließlich sein Freund!“ „Wie lange eigentlich schon?“ „Ich weiß nicht. 16, nein, 17 – 17 Jahre.“ Eine lange Zeit.
„Seit 17 Jahren. Ich wette, er hat es dir schon oft, sehr oft gesagt.“ „Nein!“ „17 Jahre. Der arme Kerl. Medea, Kathrin, Judith und wie sie sonst alle hießen.“ „Woher – woher weißt du von ihnen?“ „Ich habe Leon gefragt.“ Ich wunderte mich nicht darüber, dass er das getan hatte. Ich wunderte mich nur darüber, dass er sie gerade jetzt erwähnte. Es machte mir schreckliche Bauchschmerzen.
„Aber Kai wollte von keiner was! Er war in keine verliebt!“ „Oh, Dimitri! Versuch es doch zu verstehen! Er war vielleicht nicht verliebt, aber trotzdem hat er geliebt. Die ganze Zeit hindurch! Und zwar immer nur ein und dieselbe Person! Leider hoffnungslos, aber da kann niemand etwas für.“
Irgendwas an seinem Ton machte mich plötzlich furchtbar wütend auf ihn. Vorher hatte ich Kai gehasst und es Lou ausbaden lassen. Doch jetzt hasste ich ihn selbst. Lou wusste mehr als ich. Und das war nicht richtig. Das stand ihm nicht zu!
Er war der Fremde hier. Von ihm wollte ich keine Vorwürfe hören! Wahrscheinlich waren es nicht einmal welche, aber das war egal. Ich wollte sie nicht hören!
„Hör auf! Er war nicht verliebt!“ fuhr ich ihn an. Und schon wurde seine Stimme wieder sanfter. Beinahe klang er traurig. Doch das fiel mir erst später auf. Damals achtete ich nicht darauf. Ich achtete nur auf sehr wenig.
„Nein. Das war er nicht. Er war nicht verliebt, er hat geliebt. Das ist etwas anderes. Verliebt sein kommt schnell und geht auch genauso schnell wieder. Lieben aber nicht. Das dauert lange. Wenn man liebt, wartet man, wartet, wartet und wartet. Auch wenn es hoffnungslos zu sein scheint. Bis man nicht mehr kann. Lieben. – Mit jeder Faser seines Herzens hat er dich geliebt.“
Der Schreck nahm mir alle Kraft und ich fand mich mit einem Mal auf dem Boden wieder. Alles drehte sich und Bilder stürmten mit solcher Gewalt auf mich ein, dass mir beinahe schlecht wurde. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich sah Kai, wie er mir aufhalf, als ich beim Eishockey stürzte. Kai, wie er auf mich wartete. Kai, wie er kein einziges Wort verlor, wenn ich zu spät kam. Kai, wie er strahlte, als ich ihm sein Geburtstagsgeschenk überreichte. Kai, wie er mir einen besorgten Krankenbesuch abstattete. Kai, wie er jedem meiner Worte aufmerksam lauschte. Wie er mit mir weinte, als meine Großeltern starben. Wie er mit mir lachte, als ich meine erste Freundin kennen lernte. Wie er lachte bei der ersten und weinte bei den nächsten. Kai, wie er weinte.
Deshalb? War es das? Sein Geheimnis? Ja, deshalb.
„Du sollst ihm nicht verzeihen, Dimitri. Das kann jetzt keiner von dir verlangen. Versuch nur, ihn zu verstehen.“ Lous Worte durchschnitten meine Gedanken. Aber ich reagierte nicht auf sie. Ich konnte es nicht.
Ich hatte es gewusst. Seit er das alte Lied erwähnt hatte. Innerlich hatte ich es gespürt, aber nicht erkannt. Ich hatte es erkennen sollen. Das hatte er beabsichtigt. Aber ich hatte mich geweigert. Deshalb hatte er das Lied erwähnt, und deshalb die Erinnerung an Tonka. Deshalb. Alles zusammen war ein einziger Abschiedsgruß, und gleichzeitig auch eine einzige, letzte Bitte um Verständnis. Verständnis für etwas, das ich wohl nie erfahren hätte, wenn Lou es mir nicht gesagt hätte. Aber...
„Versuch es. Um deinetwillen, versuch es.“ Wieder ging ich nicht auf seine Worte ein. „Woher wusstest du das? Woher wusstest du das, Lou? Ich glaube nicht, dass er dir das gesagt hat!“
Ich sah zu ihm hinauf in sein Gesicht und mir wurde klar, dass er mich bemitleidete, nicht, weil heute Nacht geschehen war, was geschehen war, sondern weil ich so blind gewesen war.
„Nein, er hat es mir nicht gesagt. Das brauchte er aber auch gar nicht. Seine Augen – seine Augen haben ihn verraten. Die Blicke, mit denen er dich ansah, und der Ausdruck seines Gesichts, wenn er über dich sprach. Er sprach sehr oft über dich.“
Lou lächelte mich an. Ich verstand nicht, warum er es tat. Wie konnte er mich jetzt noch so ansehen? Nach allem, was passiert war? Wieso ekelte ich ihn nicht genauso an, wie ich mich selbst auch anekelte?
„Ich weiß nicht, ob es richtig war, es dir zu sagen, oder ob Kai es gewollt hätte. Aber ich denke, du solltest wissen, was wirklich los war. Das bin ich Kai schuldig.“ Dann verschwand er einfach und ließ mich mit meiner Ungläubigkeit und meinen Zweifeln allein.
Ich zweifelte nicht etwa an der Wahrheit dessen, was Lou gesagt hatte. Das glaubte ich ihm aufs Wort. Aber ich zweifelte daran, dass ich Kai ein guter Freund gewesen war. Ich meine, ich war 17 Jahre lang mit ihm befreundet gewesen und hatte nie gemerkt, was er wirklich gefühlt hatte. Und Lou, Lou war hierher gekommen, hatte ihn nur ein paar Mal getroffen und schon Bescheid gewusst.
Ich saß da, mit den Händen im Schoß, und starrte vor mich hin. Meine Hand pochte noch immer wild. Aber mein seelischer Schmerz wog schwerer. Viel schwerer.
Für mich war eine kleine Welt zusammengebrochen. Nein, die ganze Welt. Aber wenn ich etwas gemerkt hätte, hätte das dann etwas geändert? An der Beziehung – wie anzüglich sich dieses Wort plötzlich anhörte! – zwischen uns oder vielleicht an unserer Freundschaft? Wenn ich etwas gemerkt hätte, hätte ich dann – hätte ich dann verhindern können, was heute hier passiert war?
Wenn ja, dann hatte ich jetzt nicht nur meinen vielleicht einzigen Freund verloren, ich hatte seinen Tod auch noch verschuldet. Ich hatte Kai auf dem Gewissen. Ich war schuld an seinem Tod, ich allein!
„Das ist nicht wahr.“ Ich erschrak. Lou stand wieder hinter mir. Oder immer noch? Und hatte ich etwa laut gedacht? Ich war mir ziemlich sicher, das nicht getan zu haben. Langsam wurde er mir beinahe unheimlich.
Vielleicht reagierte ich auch deshalb so aufgebracht. Obwohl in dieser Nacht eigentlich alle meine Gefühle extrem gewesen sind.
Ich drehte mich zu ihm um. „Doch! Ich hätte etwas merken und etwas unternehmen müssen!“ „Nein! Niemanden trifft die Schuld. Oder alle. Bin ich etwa schuld, weil ich ihm gesagt habe, er soll mit dir sprechen? Oder du, weil du ihn nicht verstanden hast? Oder seine Eltern, weil sie ihn fortschicken wollten? Oder er selbst, weil er nichts getan hat? – Nein. Alle sind schuld und keiner. Keiner kann den Lauf der Welt aufhalten! Wir können nur versuchen, sie etwas zu verbessern. Jeder tut, was er denkt, tun zu müssen. Und manchmal bleibt einer zurück. Das ist schrecklich, aber es ist so.“
Er klang traurig, doch das interessierte mich nicht. Ich sprang auf und schrie ihn feindselig an: „Du hast leicht reden! Dir wurde nicht gerade gesagt, dass dein bester Freund – dein bester Freund – du weißt schon!“ Ich konnte es einfach nicht aussprechen und dafür schämte ich mich einen Moment lang ein bisschen. Deshalb schrie ich noch eine Spur lauter. „Dein bester Freund hat sich nicht gerade umgebracht!“
Ich war so wütend wie noch nie. Wie konnte er sich anmaßen, sich derart in meine Angelegenheiten einzumischen!?! – Aber nein, das war es eigentlich gar nicht. Das war es nicht, was mich so empörte. Sondern: Wie konnte er es wagen, mich jetzt trösten zu wollen!?!
Ich wollte nicht getröstet werden! Ich wollte nichts anderes, als Kai in meinem Schmerz noch einmal nahe zu sein. Wie konnte Lou über seinen Tod so einfach hinweggehen!?! Als wäre es der Tod irgendeines Fremden! Er sollte mich gefälligst in Ruhe lassen!
Heute weiß ich sehr wohl, was damals passiert wäre, hätte er mir meinen Willen getan und hätte ich mich diesem selbstzerstörerischen Gefühl hingeben können. Ich habe es oft genug mit ansehen müssen, weil Leute, unter ihnen Freunde und Bekannte von mir, sich einfach nicht helfen lassen wollten. Und ich bin jedes Mal wieder froh, dass Lou an diesem Abend und in der Zeit danach da war.
Denn sonst wäre es mir genau wie ihnen ergangen. Ich wäre in Selbstmitleid versunken oder vor Hass gegen mich und alle anderen verkommen. Der Abgrund wäre tiefer und tiefer geworden, ohne dass es ein Halten für mich in meinem Fallen gegeben hätte.
Aber damals spürte ich nur diese Kälte und die Leere, vor der ich flüchten wollte, egal, wie. Deshalb war ich so furchtbar wütend auf Lou, als er versuchte, mich aufzuhalten. Und ich weiß nicht, wie viel schlimmer alles noch gekommen wäre, hätte er es nicht getan.
„Manchmal bleibt einer zurück,“ wiederholte er, völlig ungerührt von meinem Zorn. „Es gibt nichts schlimmeres. Aber es passiert. Und es wird Zeit, dass du das merkst.“
Nie habe ich jemanden mehr gehasst, aber auch gleichzeitig mehr geliebt, als Lou in diesem Moment. Doch, Kai. Aber sonst niemanden. Und ich kann nicht einmal sicher sagen, warum. Vielleicht, weil er einfach nur da war, vielleicht aber auch, weil er gerade dabei war, Kais Platz einzunehmen. Niemand sonst hatte jemals so mit mir gesprochen. Ich weiß nicht, ob es absichtlich war oder nicht, doch er tat es. Anders als Kai natürlich, aber trotzdem war es der gleiche Platz in meinem Leben und in meinem Herzen. Es war, als hätte Kai einen Nachfolger für sich gesucht, jemanden, der ihn ersetzten sollte.
„Ach ja? Wird es das? Und wenn ich es gar nicht merken will?“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Das wäre schade.“
Und mir platzte endgültig der Kragen. „Schade? Wieso fändest du das schade? Was geht dich das überhaupt an? Nichts! Du kanntest weder Kai noch kennst du mich! Du hast nicht die geringste Ahnung, was hier heute Nacht für mich kaputt gegangen ist! Du hast keine Ahnung! Das hier ist mehr als eine schlechte Note oder ein kaputtes Spielzeug! Das hier, das war ein Teil meines Lebens! Und er ist einfach weg. Das kann man nicht mit ein paar guten Worten oder etwas Kleber wieder hinkriegen! Aber das ist wohl unbegreiflich für dich, was? Du, du mit deiner heilen Welt, du hast doch keine Ahnung! Also lass mich doch endlich in Ruhe! Hau ab, nach Hause! Du gehörst nicht hierher! Nicht in dieses Land, nicht in diese Stadt, nicht an diesen Ort, nicht einmal zu den Menschen hier! Du hast weder zu Kai gehört, noch gehörst du zu mir! Und deshalb geht dich auch verdammt noch mal nichts von all dem hier etwas an! Warum sollte es auch!?!“
Betroffen sah er mich an. Das war das erste Mal, dass er sich wirklich von etwas berührt zeigte, was ich sagte. Dann lächelte er traurig. „Weil ich dich mag.“
Auch das hatte sonst nie jemand zu mir gesagt. Und plötzlich tat es mir Leid. Alles tat mir Leid. Dass ich ihn anschrie und dass ich meine Wut und diese verhasste Traurigkeit an ihm ausließ. Dass ich ihn verantwortlich machte. Und ihn dadurch selber traurig machte, noch trauriger, als er vielleicht so schon war.
Ich wandte mich von ihm ab und kauerte mich wieder auf den Boden. Lou sprach weiter, und ich merkte, dass er das, was er jetzt sagte, eigentlich für sich hatte behalten wollen.
„Du hast Recht. Ich gehöre nicht hierher. Dieses Land, diese Stadt – beides ist nicht meine Heimat. Aber was heißt das schon? Nichts. Gar nichts. Denn ich kann es dazu machen. Aber du hast kein Recht zu sagen, dass ich keine Ahnung habe. Was du heute hier verloren hast, kann dir keiner jemals ersetzen. Und niemand weiß das wohl besser als ich. Ich mag dich, und deshalb werde ich dir jetzt etwas sagen, was viele wissen, du aber wohl nicht. Sonst hättest du nicht gesagt, was du gerade gesagt hast. Ehrlich gestanden bin ich sogar froh, dass du es nicht wusstest. Weil ich es dir so selber erzählen kann. Denn nicht viele haben es von mir erfahren. Es geht nämlich auch eigentlich niemanden etwas an, und es würde wohl auch kaum jemand verstehen, warum ich es ihm erzähle. Aber ich möchte, dass wir Freunde werden, und deshalb sollst du es wissen. Dir braucht nicht das gleiche zu passieren wie mir.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Meine Mutter und meine kleine Schwester kamen bei einem Attentat ums Leben. Und ich bin Schuld an ihrem Tod. Ich wollte es verhindern, aber sie starben einfach, und ich konnte nichts tun. Nur zusehen und überleben.“
„Die Narbe auf deiner Brust – stammt sie daher?“ Wie um alles in der Welt kam ich denn jetzt nur auf diese Frage? Ich hätte ihn nicht unterbrechen sollen.
Aber Lou schien weder sauer noch überrascht zu sein. „Nein. Ich wünschte, es wäre so. Aber sie stammt nicht von damals. Mir passierte nicht das geringste. Und das macht die Sache nicht gerade einfacher.
Nun könnte ich mich hassen, weil ich es war, der ihren Tod verursachte. Ich könnte mich quälen damit, mein ganzes Leben als Sklave dieses einzigen Gedanken verbringen. Aber es würde nichts ändern. Und glaub mir, ich habe die Schuld an dem, was damals geschah. Ich alleine. Denn ohne mich wären sie nicht einmal dort gewesen. Und ich hasse mich dafür. Immer noch, nach so vielen Jahren. Aber ich kann auch heute noch nichts tun, nur versuchen, die Welt etwas zu verbessern, damit einem anderen nicht das gleiche passiert wie mir. Ich will nicht, dass irgend jemand so leiden muss wie der Prinz, meine Geschwister und – alle anderen.“
Ich sah ihn nicht an. Ich starrte nur wortlos auf den Boden vor meinen Füßen. Der Lou, der da mit mir sprach, war mir vollkommen fremd. Er zeigte mir das erste Mal etwas von sich, was nicht über alles erhaben war. Er zeigte mir, dass auch er nicht unerreichbar war für Schmerzen und Trauer. Und mir war nicht klar, ob dieser verletzliche junge Mann mir wirklich gefiel.
Doch irgendwas schien es mir zu geben. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber plötzlich war ich ganz von der Hoffnung erfüllt, dass er mir helfen konnte. Und ehe ich es so recht bemerkte, fragte ich schon leise: „Und warum bist du dann immer so – so zufrieden? Wie hast du das geschafft?“
Alles rings um uns war Stille, und auch unsere Worte harmonierten auf geheimnisvolle Art mit der Nacht. Ich liebte sie von diesem Moment an. Die Dunkelheit verbarg mich, sie wahrte Anonymität, egal wie persönlich die Dinge auch waren, die man aussprach.
Ich stand langsam auf und drehte mich um. Der Mond schien plötzlich noch etwas heller zu scheinen. Lou sah mich an. Er blickte mir direkt in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick und das erste Mal sah ich etwas in den Tiefen seiner Augen. Für einen kurzen Moment verstand ich alles. Seine ganze Welt, all seine Gefühle schienen offen vor mir zu liegen, als ständen sie in seinen Pupillen geschrieben, so dass ich sie nur noch abzulesen brauchte.
Aber dann war es plötzlich vorbei. Die Tür war wieder zu, das Licht aus, die Schrift verwischt, die Chance vertan. Da waren nur noch diese tiefen, dunklen Augen, die so unergründlich waren, dass ich sie wohl niemals wirklich verstehen würde.
Ich wollte die Augen schließen, doch es ging einfach nicht. Lou sah mich weiterhin an, und ich hatte das Gefühl, als würde er noch immer in mir lesen.
 
„’Ich habe gesehen
Was du bist
Tag für Tag und Jahr für Jahr
Aber gewusst
Habe ich es nicht.
 
Ich habe geliebt
Wie man nur lieben kann
Tag für Tag und Jahr für Jahr
Aber gewusst
Habe ich es nicht.’“
 
Bei seinen Worten lief es mir kalt den Rücken hinunter. „Nicht wahr, Dimitri?“ fragte er. Und er hatte Recht: Gewusst hatte ich es nicht.
„Warum weiß man es erst, wenn es zu spät ist?“ Ich erwartete keine Antwort. Und ich wollte auch keine hören. Ich beobachtete ihn nur und versuchte herauszufinden, ob es mir bei ihm genauso ergehen würde. Ich hatte schreckliche Angst davor.
Die Distanz zwischen uns war so unendlich groß, aber noch größer war das Erlebnis, diesen vertrauten Fremden von einer völlig neuen Seite her kennen zu lernen.
Und irgendwo in diesem stillen Verstehen lag die Erkenntnis, dass auch er verletzt war. Auch ihm ging Kais Tod sehr zu Herzen. Wir waren Leidensgenossen. Der Unterschied war nur, dass Lou seinen Schmerz nicht zeigen würde. Niemandem und niemals.
Erst viel später habe ich verstanden, warum er es nicht tat. Er konnte es schlicht und ergreifend nicht. Er hatte es nie gelernt. Er konnte nicht trauern und dabei verletzbar sein, weil er nur wenigen vertrauen konnte. So wenigen, dass er selbst die Menschen, die er seine Freunde nannte, nicht wirklich an sich heran ließ, aus Angst, doch von ihnen verletzt zu werden.
Es gab sicherlich keinen besseren Freund als Lou. Er konnte zuhören, er konnte abwarten, er konnte helfen. Ich habe, soweit ich mich erinnern kann, niemals vergeblich auf ihn gehofft. Er war immer da. Nur eines fiel ihm schwer. Er konnte Vertrauen annehmen und bewahren, aber nur in sehr seltenen Fällen schenken.
Doch ich weiß, dass Kai eine Ausnahme gewesen wäre. Kai, Kai wäre jemand gewesen, dem er hätte vertrauen können. Denn Lou war ihm nahe gewesen. Er hatte sein Geheimnis gekannt und bewahrt. Als Einziger hatte er davon gewusst und es sorgsam gehütet.
Lou war nicht unnahbar und nicht glücklich und nicht zufrieden mit sich und der Welt. Auch das ist eine Tatsache, der ich mir erst viel später bewusst wurde. Damals ahnte ich es noch lange nicht. Ich sah nur, wie seine Fassade abzubröckeln schien. Er ließ mich sehen, wie er wirklich war.
Es schimmerte kurz, ganz undeutlich nur, etwas hervor, das mich stark an Kai erinnerte. Ich glaubte, Kais zuweilen gebückte Haltung wiederzuerkennen, die ihn immer wie einen gebrochenen alten Mann hatte aussehen lassen. Und eine unheimliche, eisige Kälte brach über mich herein.
Ich fühlte mich einsam, so einsam wie nie zuvor. Wie gern hätte ich es jetzt gehabt, hätte Lou mich in den Arm genommen. So ungern ich es auch zugab, so war es.
Wie gern hätte ich ihn in den Arm genommen, nur um einem menschlichen Wesen nahe zu sein. Und hätte ich nicht Angst vor seiner Reaktion gehabt, hätte ich es sicherlich auch getan. Wie gern hätte ich seinen Geruch gerochen und seine Wärme gespürt. Wie gerne hätte ich die Distanz zwischen uns durch Nähe ersetzt, mich an ihm festgehalten, damit ich nicht fiel. Als ob es für immer anhalten solle, obwohl ich ja wusste, dass das nicht ging. Mich von ihm trösten lassen und auch ihn getröstet, obwohl wir beide nicht zu trösten waren, weder er noch ich.
Das waren meine Gedanken. Das war alles, was in meinem Kopf umher spukte. Und mein Gehirn gab den Befehl, mich endlich zu bewegen, näher zu treten. Doch ich tat es einfach nicht. Ich gehorchte nicht, sondern stand nur da wie eine Statue. Und ich hätte ewig so stehen können.
Aber auch das tat ich nicht, sondern drehte mich um und ließ mich wieder zu Boden gleiten. ‚Mann, heute tust du was für deine Kondition! Aufstehen, hinsetzen, aufstehen, hinsetzen!’ dachte ich und musste lachen. Ich kam mir vor, als wäre ich entweder verrückt oder total betrunken, was beides nicht der Fall war. Ersteres noch nicht, und letzteres nicht mehr.
Ich vergrub mein Gesicht in meinen Armen und wartete darauf, dass die Zeit verging. „Das ist alles nur ein Traum! Das ist alles nur ein mieser, ekelhafter Alptraum!“ murmelte ich. Und für einen Moment glaubte ich selber fast daran. Die Dunkelheit, die Stille, das leise Plätschern des Mississippi – das alles war so unwirklich und schön.
Ich fuhr zusammen, als sich ein Arm behutsam um meine Schulter legte. Ich sah nach links und wusste, es war kein Traum. Denn da hockte Lou. Er hockte da, wie vorher Kai neben mir gesessen hatte.
Doch Lou nahm seine Hand nicht zurück, sondern zog mich sogar noch etwas näher an sich heran. Es war kühl, aber trotzdem lief mir der Schweiß in Strömen über die Stirn und den Rücken hinab.
„Wie hast du das geschafft?“ fragte ich noch einmal. „Komm, steh auf!“ Ich ließ mich widerwillig zum stehen bringen. Ich hätte viel lieber weiter da gesessen und seinen Arm um meine Schulter gespürt.
Er hielt mir ein Taschentuch hin. „Deine Hand.“ Ich sah sie an und stellte jetzt erst fest, dass sie blutete. Noch immer oder schon wieder? Ich band mir das Tuch darum.
„Sag es mir!“ verlangte ich. Er sah mich an, tief und ernst, so wie nur er es konnte, und sagte langsam und bedächtig, jedes einzelne Wort betonend: „Ich habe gesucht. Und ich habe die Suche erfolgreich beendet.“
Seine Stimme klang sanft, so sanft, dass ich nicht wusste, ob er seine Worte wirklich aussprach, oder ob ich alles nur irgendwie in meinem Kopf hörte.
„Suche? Was denn für eine Suche?“ „Die Suche gehört zu unserer Philosophie, die ein Teil unserer Religion ist. Es heißt, dass jeder Mensch irgendwann seine alten Werte aufgeben muss, um die Wahrheit finden zu können. Die Wahrheit über das Glück und das Unglück, über das Leben. Dieser Suche muss sich jeder, ob reich oder arm, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, stellen. Mag sie auch noch so hart und schwer sein.“
„Die Suche nach der Wahrheit?“ Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. Ich hatte mir etwas anderes erhofft. Wirkliche Hilfe, nicht so einen Unsinn.
„Es gibt diese Wahrheit nicht.“ „Oh doch, es gibt sie. Ich weiß es, denn ich habe sie bereits gefunden.“ „So? Und was hast du jetzt davon? Sie bleiben tot, alle bleiben sie tot!“
Er wirkte beinahe verletzt, und ich war etwas erstaunt darüber. „Lass das, Dimitri. Natürlich bleiben sie tot. Doch die Wahrheit gibt mir die Kraft, dass ich jetzt hier mit dir stehen kann. Und ich habe nun, nachdem ich gefunden habe, was ich suchte, gesehen, dass ich, im Gegensatz zu dir, – wirkliche Freunde habe. Und ich weiß vor allem auch, wer sie sind.“
Mit diesen Worten war der ganze Zauber endgültig verflogen. Ich wich einen Schritt zurück. „Wieso? Ich habe auch Freunde!“
Was sollte das denn jetzt? Das wollte ich nicht hören! Ich, keine Freunde? Ausgerechnet ich, Dimitri Kalaschnikov, den alle mochten? Selbst wenn es wahr war, ich wollte es nicht hören!
Aber Lou ließ nicht nach. „Bist du dir da so sicher? Hast du Freunde, ich meine, wirkliche Freunde? Ich glaube nicht. Wo sind sie denn jetzt? Ich sehe niemanden. Denk einmal darüber nach, Dimitri Kalaschnikov!“ Er drehte sich einfach um und verschwand, dieses Mal endgültig.
Und ich dachte nach. Oder besser gesagt, ich tat wieder einmal so, als würde ich nachdenken. In Wirklichkeit redete ich mir nur selber etwas ein. Aber lange hielt ich das nicht durch. Bald kam ich zu dem Schluss, dass ich ja eigentlich genau das, nämlich, dass ich keine wirklichen Freunde hatte, vor ein paar Tagen und das letzte Mal erst vor ein paar Minuten auch noch gedacht hatte. Vielleicht stimmte es also sogar.
Doch gerade als ich mit meinen Gedanken so weit gekommen war, wusste ich plötzlich, dass es nicht stimmen konnte. Denn ich war ja schließlich gar nicht alleine gewesen.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Samstag, 11. August 2007

Kapitel V, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 08:04

Die Tage verstrichen und schon war der 30. Mai gekommen. Unsere Party! Und gleichzeitig der Abschied von Kai, was dem ganzen für mich einen leicht wehmütigen Anstrich gab.
Der Abend fing gut an. Kai hatte dieses Jahr darauf verzichtet, sich eigene Freunde mitzubringen, und so standen er und Lou die ganze Zeit zusammen herum. Damit war mein größtes Problem, bei dem ‚Neuen’, der sich noch immer nicht wirklich in unsere Gemeinschaft integriert hatte, für Unterhaltung zu sorgen, auch vom Tisch.
Alles lief wie am Schnürchen. Meine Eltern waren auf einem Kongress über antike Architektur und wollten über Nacht wegbleiben. Wir hatten also das ganze Haus für uns alleine.
Es wurde ausgelassen gefeiert, und im Laufe des Abends fand auch der Inhalt so mancher Flasche Alkohol an seinen Bestimmungsort.
Irgendwann, es war wohl kurz nach Mitternacht, ging ich einmal hinaus um frische Luft zu schnappen, weil auch ich dem Alkohol nicht gerade abgeneigt gewesen und es mir infolgedessen im Haus zu warm geworden war.
Da sah ich Kai in einiger Entfernung am Ufer des Mississippi sitzen und auf das Wasser starren. Er war allein. Kein Lou zu sehen.
Ich ging zu ihm hin und setzte mich neben ihn. Es war dunkel, nur die Lampions mit ihren schwachen Lichtern erhellten die Nacht.
Leise drang die Musik des DJs zu uns herüber. Die plötzliche Stille betäubte mich regelrecht, und ich erschrak darüber, wie laut sich meine Stimme anhörte, als ich fragte: „Wo ist Lou?“ „Er sagte, er müsse noch einmal kurz weg.“ „Du kommst gut mit ihm aus, oder?“ „Ich – ich mag ihn.“ Die Antwort ließ mich zusammenzucken. Warum tat es mir nur so weh, dass er das sagte?
Ich wollte plötzlich nicht mehr über Lou reden. „Gefällt es dir? Macht’s Spaß?“ „Ja.“ Aber es hörte sich für mich nicht wirklich danach an.
Ich kann mich an diese Nacht erinnern, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich mich mit Kai unterhielt. Jede Kleinigkeit, jede einzelne, winzige Regung ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Und doch ist es fast 30 Jahre her. 30 Jahre. Eine lange, lange Zeit.
Wenn ich heute die Augen schließe, sehe ich alles noch genau vor mir. Ich sehe mich mit Kai am Mississippi sitzen, ich beobachte jede unserer Bewegungen, ich höre jedes einzelne unserer Worte. Ich spüre die Stimmung zwischen uns, diese unheilvolle Spannung. Und ein eisiger Schauer läuft mir bei dem Gedanken an diese Nacht den Rücken hinunter.
Es war eine schöne, sternklare Nacht. Eine jener Nächte, in denen man viel, sehr viel sagt und hinterher noch mehr davon wieder schrecklich bereut.
Doch heute, wenn ich heute hier am Mississippi stehe und dieser Nacht gedenke, hätte ich heute nur einen Wunsch frei, ich würde mir wünschen, in dieser Nacht noch viel, viel mehr gesagt zu haben. Ich würde mir wünschen, dass Kai in dieser Nacht noch viel, viel mehr gesagt hätte.
Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht besser. Vielleicht aber auch schlechter. Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nicht einmal wirklich vorstellen. Ich weiß nur, dass ich keinen Wunsch frei habe und dass alles so ist, wie es ist. Dass alles so passierte, wie es passierte. Und dass es noch immer weh tut. Noch immer, nach 30 langen Jahren.
Das überwältigende Gefühl der Freundschaft und des Vertrauens zwischen uns wurde immer größer, die Dunkelheit und der Alkohol taten das Ihre, und so redeten und redeten wir, meist über unheimlich sentimentales Zeug.
Irgendwie kamen wir dann auch auf Medea zu sprechen und darauf, dass sie mich verlassen hatte. Und wie. „Weißt du, Kai, ich hab sie wirklich geliebt. Ich verstehe nicht, wie sie so einfach gehen konnte. Ich verstehe das nicht!“
Kai sah schweigend zu Boden. Dann legte er seinen Arm um meine Schultern, wie er es in Momenten wie diesem schon so oft getan hatte. Aber dieses Mal zögerte er.
Schließlich sagte Kai mit seltsam rauer Stimme: „Vergiss sie! Sie ist es nicht wert, dass du ihretwegen so down bist. Sie...“
Er überlegte, und ich wusste, jetzt würde ein Bild kommen. Er sprach immer gerne in Bildern, wenn er selber keine Worte mehr hatte.
„Ja, genau, sie ist nur ein Stein auf deinem Weg. Wie all die anderen auch. Sie ist hinter dir und nicht mehr wichtig!“
Ein schönes Bild. Ich dachte darüber nach, und die Vorstellung gefiel mir, mein Leben als eine Art Weg zu sehen. Doch sie überzeugte mich nicht.
„Ja, ich glaube, du hast Recht. Danke!“ Ich versuchte, fröhlich zu klingen, aber ich dachte: ‚Ja, Kai, bestimmt hast du Recht. Sie ist nur ein Stein auf meinem Weg. Einer unter vielen. Nur ein Stein. Aber ein großer, ein verdammt großer!’
Ich seufzte. Doch ich wollte uns durch meine Sentimentalitäten nicht den ganzen Abend verderben. Also raffte ich mich zusammen und fragte betont munter: „Sag mal, Kai, du hast immer eine Antwort für mich. Jedes Mal. Aber warum hast du selber eigentlich noch nie eine Freundin gehabt? Ich meine, du bist doch immerhin schon 20!“
Er zog seinen Arm zurück und senkte den Kopf wieder. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. „Ich weiß nicht.“ „Komm, du willst mir doch nicht erzählen, du hättest keine abbekommen! Gerade du! Ich hab dich in Discos gesehen. Da waren doch so viele! Und du bist witzig, immer gut drauf und du – naja, siehst eben echt cool aus!“
Kai fuhr hoch und starrte mich an. Im Schein der Lampions konnte ich seine Augen glitzern sehen. „Findest du?“ Verwirrt sah ich ihn an. Irgendwas war anders an ihm als sonst! Aber was? Und wieso?
„Ja, natürlich. Was ist denn los mit dir?“ Er seufzte und sah verträumt auf den Mississippi. „Ach, weißt du, Mitja, manchmal ist das Leben so schön. In Momenten wie diesem zum Beispiel. Aber manchmal tut es hier“ er legte die Hand auf seine Brust „so weh, dass ich am liebsten sterben möchte. Ich möchte einfach einschlafen und träumen und nie wieder aufwachen müssen.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war erschrocken und bekam beinahe Angst. So – so merkwürdig hatte ich Kai noch nie erlebt. Ich traute mich nicht, etwas zu tun oder zu sagen, weil ich nicht wusste, was dann passieren würde. Also sagte ich erst einmal gar nichts.
Alles war ruhig. Leise drang die Musik des DJs zu uns herüber. Dann plötzlich fuhr Kai in einem ganz anderen, viel frischeren Ton fort: „Mitja, erinnerst du dich noch daran, wie wir früher mit deiner Großmutter einmal dieses alte Volkslied gesungen haben? Dieses ‚Ach wie ist’s möglich dann’?“
Ich erinnerte mich noch sehr gut daran und nickte. Wir hatten uns immer furchtbar lustig darüber gemacht. Aber wie kam Kai jetzt darauf? Er begann, den Text halblaut vor sich hin zu murmeln.
 
„Ach wie ist’s möglich dann
Dass ich dich lassen kann,
Hab dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!
Du hast das Herze mein
So sehr genommen ein,
Dass ich kein Andern lieb,
Liebe so sehr.
 
Obschon das Glück nicht wollt,
Dass ich dein werden sollt,
So lieb ich dennoch dich,
Glaub’s sicherlich!
Es soll kein Andrer sein,
Der mich soll nehmen ein,
Als du, o schönstes Kind,
Dir bleib ich treu!
 
Stoß mir das Herz entzwei,
Wenn du ein falsche Treu
Oder nur falsche Lieb
Spürest an mir!
Dir will ich jederzeit
Zu Diensten sein bereit,
Bis dass ich kommen werd
Unter die Erd.
 
Nach meinem Tod alsdann,
Auf dass du denkst daran,
Nimm an der Totenbahr
Dies Reimlein wahr:
Hier liegt begraben drein
Die dich geliebt allein
Die dich geliebet hat
Bis in das Grab.“
 
Ich nickte noch einmal. „Ja, so ging es. Aber wie kommst du jetzt darauf?“
Kai ging gar nicht auf meine Frage ein. „Wir haben uns darüber lustig gemacht. Wir wussten beide nicht, warum jemand so etwas singen sollte. Oder wie man auch nur darauf kommen könnte. Wir haben gedacht, man müsste schon ganz schön krank sein, um so zu denken!“ Er lachte. „Ewige Treue, ohne wirklich erhört zu werden. Jemanden nur lieben, um ihn zu lieben. Ohne Gegenleistung, ohne ihn jemals zu bekommen.“
Ich fragte mich, ob Kai vielleicht ein bisschen zu viel getrunken hatte. Aber das konnte nicht sein. Er trank kaum Alkohol. Meist sogar gar nichts. Das lag daran, dass er als Kind miterlebt hatte, wie Markus, sein Onkel, einmal in einem Rausch gegen einen Baum gefahren war. Seitdem saß Markus im Rollstuhl und Kai hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen alle Spirituosen. Außerdem war er Sportler. Das passte nicht zusammen.
„Ja, das hört sich komisch an.“ Ich begriff noch immer nicht, worauf er hinaus wollte. Und Kai fuhr fort: „Ich habe es jetzt verstanden, glaube ich. Wäre es nicht toll, einmal so etwas zu erleben? Jemanden zu finden, der so denken kann, wenn er einen sieht? Der einen bedingungslos liebt? Ich würde das zu gerne einmal erleben.“ „Ja. Und das wirst du bestimmt auch. Irgendwann.“ Aber ich glaubte selber nicht so recht an meine Worte. So etwas gab es nur in kitschigen Liebesromanen.
„So jemanden finden und dann sterben,“ murmelte er. Ein paar Minuten blieb es wieder still. Ich dachte über Kai nach und darüber, was er gesagt hatte. Oder ich dachte, dass ich darüber nachdachte. Denn in Wirklichkeit tat ich es nicht, sondern hoffte nur, dass das hier möglichst schnell vorbei sein würde. Vielleicht habe ich ihm in Wirklichkeit ja nicht einmal richtig zugehört.
Schließlich stand Kai auf und ging. Ich drehte mich nicht um. Ich weiß selber nicht, warum ich es nicht tat, denn ich spürte doch, dass er jetzt fortgehen würde. Ein paar Worte würde er vielleicht noch sagen, aber dann würde er endgültig von hier, von mir verschwinden. Und trotzdem drehte ich mich nicht nach ihm um. Ich wünsche mir so sehr, dass es anders gewesen wäre.
„Mitja, wenn ich jetzt fortgehe, musst du mir noch eines versprechen!“ Er stand dicht hinter mir und ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren.
„Was?“ Ich rührte mich nicht, und meine Stimme klang seltsam fremd in meinen Ohren. So kalt. Warum nur? Mir war kalt, äußerlich und innerlich.
„Das klingt jetzt vielleicht albern, aber – bitte, vergiss mich nicht! Und – behalte mich – behalte mich in guter Erinnerung. So, wie ich jetzt bin. Behalte die Erinnerungen, was auch passiert. Bitte!“
Er lachte leise, aber es klang wie ein Weinen. „’Und wenn es dunkel wird rings umher, wenn alle Herzen in Kälte erstarren, so wird das meines Bruders durch die Liebe des roten Kriegers erhellt werden.’ So sagt er doch, nicht wahr? Ja, das sagt Tonka.“
Tonka war unser Held gewesen. Viele Jahre lang. Er und sein Freund Sandee, zwei fiktive Indianer – die Symbole unserer Freundschaft. Unsere ganz privaten Helden eben.
Aber warum sprach Kai jetzt von ihm? Ich wurde immer unruhiger.
Er ging und ich hörte ihn leise singen:
 
„Nach meinem Tod alsdann,
Auf dass du denkst daran,
Nimm an der Totenbahr
Dies Reimlein wahr:
Hier liegt begraben drein,
Der dich geliebt allein,
Der dich geliebet hat
Bis in das Grab.“
 
Die letzten Worte waren nur noch undeutlich zu hören gewesen. Aber ich war mir sicher, sie richtig verstanden zu haben.
Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und drehte mich um. „Kai, was...“ Doch da war kein Kai mehr. „...soll das?“
 
Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Mir wurde flau in der Magengegend. Meine Hände zitterten und fühlten sich eisig kalt an.
Kai war so seltsam gewesen, ganz anders als ich ihn kannte. Seine Worte klangen in meinem Kopf nach. Irgendwas hatte er vor. Nur was? Und warum? Ein Gedanke kam mir, der eine unheimliche Übelkeit in mir aufsteigen ließ.
Aufgeregt rannte ich durch den Garten und fragte jeden, den ich traf, nach ihm. Doch keiner konnte mir helfen, niemand hatte ihn gesehen.
So verging wohl eine gute Stunde und ich war kurz davor aufzugeben, da packte mich plötzlich jemand von hinten am Arm und hielt mich fest. „Er wollte doch mit dir sprechen!“ zischte es an mein Ohr.
Erschrocken fuhr ich herum und sah in Lous Gesicht. Es verriet deutlich, dass irgendwas ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Lou war blass und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Irgendwas stimmte da ganz und gar nicht.
Wortlos bedeutete er mir, ihm zu folgen. Mir wurde noch schlechter. Meine Knie zitterten und ich stolperte hinter ihm her.
 
Lou führte mich quer über unser Grundstück, watete durch den Mississippi und blieb schließlich einige Schritte vor einer großen, alten Eiche stehen.
‚Das hätte ich mir auch selber denken können!’ Ich kannte diesen Baum und seine Bedeutung nur zu gut. Böse Vorahnungen schnürten mir die Kehle zu und griffen mit eisiger Hand nach meinem Herzen.
Langsam trat ich neben Lou und sah das schrecklichste Bild, das ich bis dahin je hatte sehen müssen. Es verfolgt mich noch heute ab und zu.
Am liebsten wäre ich weggerannt. Oder, noch besser: Aufgewacht. Am liebsten wäre ich aufgewacht und hätte festgestellt, dass alles nur ein Alptraum gewesen war, angefangen von dem Tag an, als er mir sagte, dass er fortgehen würde.
Aber leider wachte ich nicht auf und ich rannte auch nicht weg. Ich starrte nur auf diese schreckliche Szenerie.
Wenn man so etwas im Fernsehen sieht, hält man es wohl für übertrieben. Man denkt, dass keinem Menschen so etwas passieren könnte. Man lacht vielleicht sogar über die Angst oder die Tränen, die vergossen werden.
Auch ich habe das unzählige Male getan. Und auch ich habe es nie für möglich gehalten, dass mir so etwas passieren könnte. Weder das, was an diesem Abend geschah, noch das, was in der Folge geschehen sollte. Es war wie ein schlechter Film. Aber es war real.
Die silberne Scheibe am Himmel ließ die kleine silberne Klinge, die unter dem Baum im Moos lag, hell schimmern und glitzern. Sonst war alles grau. Das Wasser, das Laub, selbst die Luft.
Der Mond beleuchtete mit seinem bleichen Licht meinen ebenso bleichen besten Freund. Mit geschlossenen Augen saß Kai auf dem Boden. Er lehnte mit dem Rücken am Stamm des Baumes. Sein Kopf war auf seine Brust gesunken, seine Arme lagen kraftlos im Laub. Dunkle Pfützen hatten sich um sie gebildet, die schon die Hosenbeine erreichten und sie mit ihrer dunklen Flüssigkeit tränkten. Aus Kais Handgelenken floss ein nunmehr nur noch dünner Strom Blut und nährte die Lachen immer weiter.
Kai hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Klar und nüchtern wurde ich mir dieser Tatsache bewusst.
Meine Übelkeit, meine Beklemmung, alles war mit einem Mal wie weggeblasen. Vielleicht waren diese Gefühle aber auch nur so übermächtig geworden, dass ich sie einfach nicht mehr wahrnahm.
Wie mechanisch ging ich auf meinen ältesten, besten Freund zu und kniete mich neben ihn ins Laub. Lou blieb unbeweglich stehen. Und es war gut zu wissen, dass er es tat und nicht fortging.
„Kai! Kai!“ Während meine Knie kalt und nass wurden, krallte ich meine Finger um seine Arme und schüttelte ihn voller Angst. Er stöhnte und schlug die Augen auf.
Erleichtert atmete ich auf. Für einen Moment war ich wirklich versucht zu glauben, alles wäre nur ein dummer Scherz gewesen. Doch als ich Kai dann in die Augen sah, wusste ich, dass er hier und jetzt, in meinen Armen sterben würde. Und vor allem auch, dass er sterben wollte. Und das war noch viel schlimmer als alles andere. Was kann man einem solchen Wunsch schon entgegensetzen? Hatte nicht jeder das Recht, seinen Tod selbst zu bestimmen? Aber nicht so, nicht hier, nicht er! Es raubte mir den Atem.
„Kai, warum hast du das gemacht? Warum?“ „Mitja, du – du solltest nicht – hier sein! Das ist nicht gut!“ Kai flüsterte und es kostete ihn Kraft, die Worte zu finden, die er suchte. Aber das war mir egal. Es war mir egal, dass er Schmerzen hatte, und es war mir auch egal, dass er sich quälte. Ich wollte nur, dass er sprach. Er sollte sprechen, und er sollte nie wieder damit aufhören!
„Doch, es ist gut! Kai, Junge, warum?“ Er lächelte mühsam. Und dieses Lächeln werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen können. Es ist für immer unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt. Vielleicht will ich es ja auch gar nicht vergessen. Ich weiß es nicht.
„Heim – Heimweh. Es wäre einfach – zu lange gewesen. Zu lange für mich!“ Und auch ich fand keine Worte mehr. „Wir hätten doch – reden können! Du warst doch immer mein – Bruder!“ Kai versuchte noch einmal ein Lächeln. Aber es wirkte wie eine merkwürdige Fratze.
Dann flüsterte er so leise, dass ich mein Ohr ganz nah an seinen Mund bringen musste um ihn überhaupt verstehen zu können: „Ich habe keine Angst. Tonka hätte auch keine. – Verzeih deinem Bruder, Mit...“
Dann war er tot. Ich wusste es sofort. Aber ich ließ ihn trotzdem nicht los. Meine Finger bohrten sich ohne mein Zutun nur immer noch fester in seine Arme.
„Kai! Du alter Idiot!“ Aber ich meinte es nicht böse. Ich fühlte nicht, was ich sagte. Ich fühlte nur Schmerz und Unverständnis.
Kais Gesicht wurde zu einer wächsernen Maske. Je länger ich hinein sah, desto fremder wurde es mir. Ich sah, wie seine Augen langsam starr wurden, starr und kalt. Mit gläsernen, toten Augen blickte er mich an.
Kai – mein Freund, mein Kumpel, mein Schatten, mein Partner. Derjenige, auf den ich mich immer verlassen hatte. Dem ich mein Leben anvertraut hätte. Und für den ich selbst mein eigenes Leben riskiert hätte. Mein kleiner Bruder, den ich nie hatte.
Kai. Er hatte das erste Mal das letzte Wort gehabt. In seiner Flucht hatte er das erste Mal offen über alle triumphiert. Gesiegt. Auch über mich.
 
Ich kann nicht beschreiben, was in diesen Momenten in mir vorging. Ich kann auch nicht sagen, was ich fühlte. Ich kann nicht einmal sagen, wie viel Zeit verging. Eine kleine Ewigkeit, glaube ich.
Schließlich stand ich auf. Meine Hose klebte kalt an meinen Knien. Ich wandte mich ab. Ich konnte den Anblick, der mir da geboten wurde, einfach nicht mehr ertragen.
Lou stand noch immer genau da, wo er stehen geblieben war. Unverändert, genau wie vorher. Wie eine Statue. Aber jetzt trat er zu Kai und schloss ihm behutsam die Augen. Ich konnte nicht begreifen, wie er das tun konnte. Wie hypnotisiert folgte ich jeder seiner Bewegungen. Seine Hand zitterte.
Dann fiel mein Blick auf den Baum. Es war dunkel. Nur der Mond erhellte mit seinem gespenstischen Licht die Szene. Es war Vollmond. ‚Verzeih deinem Bruder,’ hatte er gesagt. Ihm verzeihen? Das hier, verzeihen?
Ich hatte keinen Bruder mehr. Und ich hatte anscheinend auch nie einen gehabt. Ein Bruder würde seinem Bruder so etwas nicht antun. Niemals!
Ich wusste nicht mehr wohin vor lauter widersprüchlicher Gefühle in mir. Ich liebte ihn mehr, als ich es jemals gedacht hätte. Und gleichzeitig hasste ich ihn, hasste ihn so sehr für das, was er mir hier angetan hatte!
Plötzlich, ich weiß auch nicht wann genau, war bei mir ein Punkt erreicht, an dem ich es nicht länger aushalten konnte. Es brach einfach alles aus mir heraus. „Du bist ein Idiot, Kai, ein verdammter Idiot! Das kannst du doch nicht machen! Das ist nicht fair! Hörst du? Das ist nicht fair! Du verdammter, mieser Egoist!“
Ich schrie und schleuderte Beschimpfungen und Vorwürfe über Vorwürfe in die Dunkelheit der Nacht hinein. Alles, was mir gerade in den Sinn kam, und alles, was ich fühlte, sprudelte aus mir heraus und nahm in unzusammenhängenden Worten und Sätzen Gestalt an, die zu wiederholen mir heute unmöglich wäre. Und dieses Mal meinte ich sie ernst.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Es ging immer herum und herum. Und was ich auch tat, ich konnte die unsichtbare Mauer, die mich umgab, nicht durchbrechen. Nirgendwo war ein Ausweg, nirgendwo ein Halt.
Irgendwann knickten meine Beine unter mir weg und ich fiel zu Boden. Ich lag auf dem Rücken im Laub, presste mir mit den Händen die Augen zu und heulte. Ich heulte einfach los. Und ohne dass ich es merkte, schrie ich plötzlich vor Schmerz laut auf.
Ich denke, ich brauche mich deswegen nicht zu schämen. Ich war noch nie dem Irrglauben verfallen, dass man als Mann seine Gefühle nicht zeigen darf. Und vor allem in einer solchen Situation wäre dieser Vorsatz ganz und gar unmenschlich, wenn nicht sogar unmöglich gewesen.
Ich denke, schämen müsste ich mich wohl eher, wenn ich es nicht getan hätte. Schließlich war Kai mein absolut bester Freund gewesen. Und egal, was auch immer er getan hatte, das würde sich nicht ändern. Unsere Vergangenheit würde sich nicht ändern. Meine Erinnerungen nicht. Nie.
Ich war mit Kai zusammen aufgewachsen. Ich hatte mit ihm zusammen gelernt, was es heißt, zu leben. Wir hatten alles geteilt, gute Zeiten und schlechte Zeiten. Wir waren Freunde gewesen. Man hätte nicht sagen können, wo das Leben des einen aufgehört und das des anderen begonnen hatte. Denn sie hatten immer zusammen gehört, schon solange ich denken kann. Es gab nie ein ‚ich’, immer nur ein ‚wir’.
Wir waren erst gemeinsam in den Kindergarten gegangen, obwohl wir öfter bei mir Zuhause gewesen waren als dort, und dann in die Schule. Wir waren zwölf Jahre lang in einer Klasse gewesen. Ging es dem einen nicht gut und blieb er zu Hause, ging auch der andere nicht zur Schule. Konnte der eine etwas nicht, half der andere ihm oder ließ ihn abschreiben. Steckte der eine in Schwierigkeiten, konnte er immer darauf rechnen, dass der andere ihm heraushalf.
‚Die Zwillinge’ hatten sie uns genannt, weil wir immer zusammen gewesen waren, nie getrennt, bis er die Versetzung in die Klasse 3 nicht geschafft hatte. Das war bis dahin der schwärzeste Tag meines Lebens gewesen. Doch auch diese Trennung hatte unserer Freundschaft keinen Abbruch tun können. Wir hatten uns gesehen, so oft es ging, und weiterhin alles gemeinsam gemacht. Und niemand hatte sich jemals auf den Platz an meiner rechten Seite setzen dürfen. Denn an meiner rechten Seite hatte vom ersten Tag an immer nur Kai gesessen.
Ich habe ihn geliebt. Ich muss es sagen, auch wenn ich es erst Jahre später verstand, habe ich ihn geliebt.
Natürlich war auch bei uns das Leben nicht immer ein reines Zuckerschlecken gewesen. Es hatte oft Streit gegeben, doch die Versöhnung war immer recht schnell gekommen. Er war eben mein Freund gewesen, ein fester Bestandteil meines Lebens. Das letzte, was ich gewollt hätte, wäre gewesen, ihn zu verlieren. Und nun war er endgültig fort. Und das so plötzlich und ohne Hoffnung, ihn jemals wieder zu sehen.
Dabei wusste ich nicht einmal genau, ob ich ihn überhaupt noch wiedersehen wollte. Er hatte mich verlassen. Im Stich gelassen, verraten, bestohlen, betrogen, ausgeliefert, hintergangen, zurückgelassen, belogen, aufgegeben, angeklagt, angeprangert, ausgeschlossen, bestraft – er hatte mir das schlimmste angetan, was er konnte: Er hatte gekniffen und war vor dem Leben geflüchtet. Alleine. Ohne mich.
Kann man einen Menschen so sehr hassen, wie ich es tat, wenn man ihn nicht vorher einmal im gleichen Maße geliebt hat? Oder sogar noch liebt?

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Freitag, 10. August 2007

Kapitel V
Von dimitrikalaschnikov, 07:05

 

 

„I should have seen it coming when the roses dies. Should have seen the end of summer in your eyes. I should have listened, when you said good night, you really meant good bye.”

Jon Bon Jovi

----------------------------------------------------------------------------

 

Die nächste Zeit verging rasend schnell. Ich hätte nicht sagen können, ob es nun Monate, Wochen oder nur Tage waren. Ich unternahm beinahe jeden Nachmittag irgendwas gemeinsam mit Kai und Lou. Unsere Treffen stellten sich zwar zuerst als ein bisschen kompliziert heraus, entwickelten sich dann allmählich aber ins Positive. Sie verliefen bald entspannt und äußerst angenehm.

Lou war am Anfang auffallend still und distanziert. Er lachte so gut wie nie. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Es kam zwar öfter mal ein stilles Lächeln über seine Lippen, das dann auch umso intensiver und freundlicher war, doch er lachte nicht.

Und er sprach auch nicht viel mit mir. Es war nicht so, dass er mir nicht antwortete oder abweisend war, nein, er redete nur einfach nicht von sich aus. Nie. Es schien fast so, als wollte er mich erst still kennenlernen. Manchmal erinnerte mich sein Verhalten sogar an das eines Raubtieres, das auf der Lauer liegt. Dann kam ich mir vor wie die Maus vor dem Kater.

Mit der Zeit machte mich Lous Schweigen fast wahnsinnig. Denn ich hatte in den wenigen Tagen, die ich ihn kannte, etwas gelernt, was mir vorher völlig fremd gewesen war. Ohne es zu merken hatte ich gelernt, zuzuhören.

Natürlich hatte ich auch vorher schon vielen Menschen zugehört, wenn sie mit mir sprachen. Doch bei Lou war es etwas anderes.

Das erste Mal in meinem Leben war ich ganz still geworden und hatte nur gelauscht. Auch wenn er sich gar nicht mit mir unterhalten, sondern mit einem anderen geredet hatte. Und das erste Mal in meinem Leben machte ich mir über das Warum der Worte Gedanken. Ich begann, über andere Menschen nachzudenken. Und das alles nur durch das Rätsel, das mir die Präsenz und die Harmonie in Lous Erscheinung und in seiner Stimme aufgab.

Doch Lou hielt sich zurück. Jedenfalls, wie gesagt, in meiner Gegenwart. Denn dann spielte er immer den distanzierten Beobachter, nichts weiter.

Nur wenn Lou mit Kai sprach, taute er schnell auf. Das merkte ich, wenn ich mich unter einem Vorwand entfernte und sie dann beobachtete. Mit ihm schien er sehr bald im Reinen zu sein. Mit ihm führte er oft sogar lange Gespräche, wobei Lou zwar auch größten Teils nur zuhörte, aber meist war er selbst der Initiator dieser Unterhaltungen. So, als würde er die Stichworte dazu geben.

Alles in allem hatte ich den Eindruck, dass Lou Kai aus einem für mich unerfindlichen Grund sofort an sich heran ließ. Anders als bei mir.

Manchmal machte mich diese Bevorzugung richtig eifersüchtig. Schließlich war Kai mein Freund, mein Schatten, der mir überallhin folgte.

Aber mit der Zeit legte sich das alles. Sowohl meine Eifersucht als auch Lous vorsichtige Zurückhaltung mir gegenüber, und immer öfter ertappte ich ihn dabei, wie er mich musterte. Manchmal nur wohlwollend, manchmal auch prüfend oder kritisch.

Ich fühlte mich einerseits davon geschmeichelt, andererseits aber auch verunsichert und irritiert. Ich wurde einfach nicht recht klug aus ihm.

 

Es war an einem heißen Nachmittag, ich glaube, es war ein Dienstag, als wir uns nach dem Unterricht das erste Mal zum Schwimmen trafen. Lou und ich machten uns gemeinsam auf den Weg zum Fluss. Unterwegs mussten wir ein Stück die Straße entlang gehen.

Ein kleiner Weg bog nach rechts ab, aber wir mussten weiter geradeaus. Lou ging ein paar Schritte vor mir her. Er war schon zu weit, um den Weg noch einsehen zu können. Hohe Büsche versperrten ihm die Sicht. So konnte er den Fahrradfahrer nicht bemerken, der mit einem irren Tempo den Berg herunter auf ihn zu gerast kam.

Aber ich bemerkte ihn. Ich sprang vor und zog Lou gerade noch rechtzeitig zurück. Der Radfahrer sauste, verfolgt von meinen wütenden Beschimpfungen, haarscharf an uns vorbei.

Lou strich sich die Haare zurück und ordnete seine Kleidung. „Alles in Ordnung?“ fragte ich ihn. Er nickte nur. „Danke,“ sagte er dann und trat einen Schritt von mir zurück. „Aber nicht an...“ „Nicht anfassen, ich weiß! Lou Tibeht, du spinnst!“ Kopfschüttelnd stapfte ich an ihm vorbei. Das hatte man nun davon! „Lou. Nur Lou.“ Er folgte mir.

Als wir am Fluss ankamen, war Kai noch nicht dort. Ich ging ans Wasser hinunter. Noch immer herrschte Stille zwischen uns. „Warum willst du nicht, dass man dich ‚Tibeht’ nennt? Gut, es ist ein etwas merkwürdiger Name, aber...“ „Nein, ist es nicht. Eigentlich ist es ein sehr schöner Name. Es war der Name meines Großvaters.“

Ich runzelte die Stirn. „Ach so. Das erklärt natürlich alles.“ „Was meinst du?“ „Naja, es ist natürlich völlig klar, dass man nicht so heißen möchte wie sein Großvater, obwohl man den Namen eigentlich schön findet. Völlig einleuchtend.“

Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, antwortete aber nicht. Ich fragte mich, ob er die Ironie in meinen Worten verstanden hatte. „Jetzt mal im Ernst,“ sagte ich deshalb. „Was ist daran so schlimm? War er so schrecklich?“ „Wenn du es unbedingt wissen willst: Mein Großvater, Tibeht Paolo, war ein großer Mann. Niemals hat unser Land einen gerechteren und weiseren Herrscher gesehen. Er hat Ljuba in einer sehr schwierigen Zeit Ruhe und Frieden gebracht. Und jetzt lass es gut sein.“

Ich erklärte Lou zum wiederholten Male für verrückt und entfernte mich vom Wasser. Er folgte mir, und ich hätte darauf schwören können, dass er in meinem Rücken mal wieder lächelte.

Ich schwitzte immer mehr, obwohl ich nur ein T-Shirt und Shorts trug. „Wollen wir schon mal ins Wasser gehen?“ Eine Abkühlung war genau das, was ich jetzt wirklich dringend brauchte.

Er breitete sein Handtuch aus und setzte sich in die Sonne. „Lass uns noch etwas warten.“ „Wieso? Schwitzt du nicht?“ Er trug wie immer seine lange Hose und sein Hemd, was alleine mir schon unbegreiflich war. Ich hätte das nicht ausgehalten.

„Nein.“ „Warum läufst du eigentlich bei dieser Hitze in den langen Klamotten rum? Das muss doch total unbequem sein. Ich glaube, ich würde vor Hitze wahnsinnig werden.“

Lou sah mich mit ausdrucksloser Miene an. „Es ist Vorschrift.“ Ich warf mein Handtuch neben ihn und ließ mich darauf fallen. „Von deiner Religion aus?“ „Von meinem Amt und von meiner Religion aus.“ „Ich würd‘ wahnsinnig werden,“ bekräftigte ich. Dann zog ich mir aufatmend das T-Shirt aus und legte mich hin. Ich gähnte. Die Hitze machte mich schläfrig.

„Ich dachte, das alles hier wäre für dich so eine Art Rebellion. Deswegen bist du doch hier, oder? Um das Leben kennen zu lernen,“ begann ich nach einer kurzen Zeit wieder. Dabei beobachtete ich Lou aus den Augenwinkeln heraus. Er starrte auf den Sand vor seinen Füßen. Dann stand er auf und drehte sich weg. Warum konnte er mich nicht ansehen?

„Nein. Es ist eine Abgrenzung.“ Er ging zum Wasser und warf einen Stein hinein. Plötzlich sagte er: „Da kommt Kai.“ Verwundert setzte ich mich auf. „Woher weißt du das?“ Aber Lou zuckte nur mit den Schultern.

Tatsächlich kam Kai keine Minute später den Weg zum Wasser hinunter.

„Hi.“ „Hallo, Kai.“ Lou drehte sich stumm zu ihm um und musterte ihn prüfend. Dann lächelte er ihm entgegen.

Kai hob grüßend die Hand in Lous Richtung und kam auf mich zu. „Rück mal ein Stück!“ forderte er. Ich machte ihm Platz und er ließ sich neben mich fallen. „Mann, was für ein Tag!“ „Was war denn los?“ Er seufzte. „Eigentlich nur der übliche Schulstress. Nichts besonderes, aber trotzdem echt ätzend. Und zu Hause ist auch mal wieder Sturmwarnung angesagt. Meine Mutter war wohl der Meinung, ich sollte lieber zur Nachhilfe als zum Schwimmen gehen.“ „Und?“ Kai zuckte grinsend mit den Schultern. „Naja, hier bin ich.“ Dann kam plötzlich Bewegung in ihn. „Kommt, lasst uns ins Wasser gehen! Ich brauch‘ jetzt endlich eine Abkühlung.“

Kai stand auf und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Dann wandte er sich an Lou, der noch immer auf das Wasser starrte. „Hast du keine Schwimmsachen mit?“

Lou drehte sich um und kam zu uns zurück. „Doch.“ „Sag nicht, dass du deine Badehose die ganze Zeit über untergezogen hattest.“ Ungläubig beobachtete ich ihn. Er antwortete nicht, aber ich wusste, dass ich Recht hatte. „Und dann rennt er mit einer langen Hose rum!“ Ich rang mir ein müdes Kopfschütteln ab. Langsam resignierte ich.

Ächzend stand auch ich auf und wartete darauf, dass Lou endlich umgezogen und fertig sein würde. Dabei wusste ich nicht so recht, wo ich hinsehen sollte. Es kam mir dämlich vor, ihn anzustarren, aber genauso dämlich fand ich es, in die Luft zu gucken. Doch Kai schien damit gar keine Probleme zu haben. Ruhig ließ er seinen Blick auf Lou ruhen. Etwas befangen versuchte ich, mir ein Beispiel an ihm zu nehmen.

Endlich stand Lou in Shorts vor uns und packte zuletzt noch seine Sachen in seinen Rucksack. Dabei drehte er uns den Rücken zu. Als er so mit nacktem Oberkörper da stand, sah man, dass er nicht oft ohne sein Hemd herumlief. Obwohl er braun war, viel brauner als ich, konnte man doch den farblichen Unterschied zwischen seinem Gesicht und seinem Oberkörper deutlich erkennen.

Lou schloss seinen Rucksack, erhob sich und drehte sich zu uns um. Als er wieder aufrecht vor mir stand, fiel mein Blick auf einen hellen, leicht schimmernden Streifen. Weiß glänzend zog er sich vom rechten Schlüsselbein vielleicht 15 Zentimeter quer über seine Brust hin. Er stach deutlich von der natürlichen Bräune der Haut ab.

„Was hast du da gemacht?“ Kai deutete auf die Narbe. Wie um zu verstehen, was er meinte, sah Lou an sich hinunter. Er fuhr mit der Hand hoch. Seine Finger hinterließen helle Spuren, als sie sich in die Haut krallten und über dieses Zeugnis einer alten Verletzung fuhren. Sie versuchten, das verräterische Mal zu vernichten, das seinen Träger noch sein ganzes Leben lang brandmarken würde.

Dann senkte Lou seine Hand wieder. Die hellen Spuren verfärbten sich und wurden feuerrot. Verwirrt beobachtete ich ihn. Wir warteten noch immer auf eine Antwort. Lou drehte sich um und ging ins Wasser. „Nichts.“

Verwundert wechselten Kai und ich einige Blicke. Schließlich zuckten wir nur mit den Schultern und folgten Lou.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Donnerstag, 09. August 2007

Kapitel IV, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 07:33

 

Am Morgen erwachte ich früh. Ich fühlte mich gut, ausgeschlafen und wieder relativ fit. Außer ein paar blauen Flecken, ein bisschen Kopfschmerzen und Heiserkeit war alles in Ordnung.

Ich stand auf und wollte mich anziehen. Erst da fiel mir ein, dass meine Eltern mir noch keine neuen Sachen gebracht hatten. Das wollten sie erst heute früh tun, denn sie waren gestern direkt aus dem Restaurant hierher gekommen.

Also zog ich mir notgedrungen meine alten Sachen wieder an. Sie stanken nach Rauch, waren staubig und an manchen Stellen leicht angesengt. Mein Shirt war noch halbwegs in Ordnung, aber mein Pullover – er war vorher weiß gewesen, jetzt aber dreckig grau, und vorne, dort, wo Lou mich hochgezogen hatte, war der blutige Abdruck seiner Hand zu sehen.

Als ich es entdeckte, verdrehte ich die Augen. Ich wurde einerseits unruhig, andererseits aber gleichzeitig auch sauer. Sein Verhalten war unverantwortlich.

Lou hatte nicht richtig auftreten können. Und er hatte geblutet, sich wahrscheinlich an den Scherben der Scheibe geschnitten. Aber dieser Idiot war weggelaufen! Wenn er nun doch schwerer verletzt war? Gut, es hatte absolut nicht danach ausgesehen. Aber möglich war es schließlich schon. Wenn er es nun nicht bis nach Hause geschafft hatte? Verdammt, dieser Idiot!

Alle Gedanken an Krankfeiern und sich umsorgen lassen, die ich vorher gehabt hatte, waren vom Tisch. Ich musste nach Hause. Und dann musste ich herausfinden, was mit Lou passiert war. Immerhin verdankte ich ihm mein Leben.

Ich knüllte meinen Pullover zusammen und wollte gerade aus dem Zimmer humpeln, da ging die Tür auf und meine Eltern traten ein. Meiner Mutter blieb vor Entsetzen der Mund offen stehen als sie mich sah.

„Mitja, was machst du!?!“ Erschrocken hielt mein Vater mich fest. „Dad, ich will nach Hause. Jetzt. Sofort. Mir geht es gut und ich werde nicht länger hier bleiben!“

Damit waren meine Eltern aber leider gar nicht einverstanden. Wir lieferten uns eine heftige Schlacht, bei der ich zu Anfang alleine gegen die beiden stand. Doch dann musste mein Vater endlich zugeben, dass es eigentlich medizinisch gesehen nichts gab, was gegen mein Verlassen der Klinik sprach, zumal er mich auch Zuhause im Auge behalten konnte. Ich hatte bei dem Unfall dank Lou schließlich außer ein paar blauen Flecken nichts abbekommen.

Nun standen wir beide meiner Mutter gegenüber, und nachdem ich versprach, mich Zuhause brav hinzulegen, gab sie endlich nach. Die erste Hürde war damit genommen. Es ging nach Hause.

 

Am Nachmittag kam Kai mich besuchen. Er war sehr besorgt und stimmte mit meiner Mutter völlig darin überein, dass ich mich nicht anstrengen durfte. Es wurde also zuerst ein richtiger Krankenbesuch wie er im Buche steht.

Aber zum Glück wurde Kai mit der Zeit etwas lockerer. Wir spielten eine Runde Karten und aßen haufenweise Eis mit Sahne. Zum Schluss war es richtig cool und wir hatten eine Menge Spaß. Von Leon und Max hörte ich nichts. Aber das hatte ich auch eigentlich nicht erwartet.

 

Nachdem Kai wieder gegangen war, machte ich mich daran, die zweite Hürde zu nehmen. Ich musste in die Schule! Unbedingt! Ich wollte sehen, was mit Lou war. Nein, ich musste es sehen. Ich hatte wegen ihm richtige Schuldgefühle. Aber von Zuhause aus konnte ich ihn nicht erreichen. Ich kannte schließlich weder seine Adresse noch seine Telefonnummer.

„Mom, ich gehe morgen wieder in die Schule.“ Sie war entsetzt. „Was? Mitja, das geht doch nicht! Du bist krank!“ „Nein, Mom, mir geht es bestens!“

Es ist schon verrückt. Sonst bettelt man immer seine Eltern an, dass man zu Hause bleiben darf, und jetzt redete ich so lange auf meine Mutter ein, bis ich in die Schule gehen durfte. Und das dauerte. Sie wollte es einfach nicht erlauben! Ich brauchte zwei geschlagene Stunden, und erst als ich ihr androhte, ich würde die ganze Zeit, die ich Zuhause verbringen musste, nicht mehr mit ihr sprechen, gab sie schließlich nach.

 

Am nächsten Morgen war ich zum ersten Mal in meinem Leben der Erste in der Klasse. Ich wartete und wartete, alle anderen trudelten nacheinander ein, aber kein Lou kam. Ich wurde langsam ungeduldig. Warten war noch nie meine Stärke gewesen.

Schließlich fragte ich Leon nach ihm. „Der? Keine Ahnung, wo der steckt. War auch gestern nicht da. Hat bestimmt irgendwie Wind von der Begrüßung gekriegt!“

Die Begrüßung! Richtig! Die hatte ich ja ganz vergessen. Noch etwas, das geklärt werden musste. „Leon, wenn er morgen kommen sollte: Die Begrüßung fällt vorerst aus.“ „Was? Wieso das denn?“ „Ich hab da so meine Gründe. Erzähl ich dir vielleicht später mal.“ „Achtung! Dorle!“ kam da gerade der Warnruf. Sofort saßen alle auf ihren Plätzen.

Dorle ließ wie gewöhnlich ihre Strafpredigt los, doch dieses Mal konnte ich mich gar nicht richtig daran erfreuen. Ich war viel zu sehr mit Lou beschäftigt. Ich fuhr erst aus meinen Gedanken hoch, als Dorle mich an der Schulter berührte.

„Dimitri, was ist denn heute los mit Ihnen?“ Sie schien ehrlich besorgt zu sein. „Wie? Nichts, Fräulein Dorle, nichts. Mir ist nur nicht gut. Kann ich – kann ich Sie vielleicht nach der Stunde einmal sprechen?“ Sie sah mich erstaunt an. „Natürlich, Dimitri.“

Ich hatte zwar etwas geschwindelt, als ich sagte, mir ginge es nicht gut, aber das machte ja nichts. Es hatte seinen Sinn erfüllt. Und plausibel war es ja auch. Schließlich hatte ich in letzter Zeit viel gefehlt. Jedenfalls ließ Fräulein Dorle mich den Rest der Stunde in Ruhe.

Als es endlich läutete, ging ich nach vorne. Alle anderen hatten den Raum schon verlassen.

„So, Dimitri, was ist denn?“ „Fräulein Dorle, ich brauche Ihre Hilfe.“ Ich hatte mir in der Stunde alles genau überlegt und festgestellt, dass es am besten war, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass ich ihr vertrauen konnte. Auch wenn sie nur meine Deutschlehrerin war.

„So? Was kann ich denn für Sie tun?“ „Wissen Sie, es ist ziemlich privat, und es wäre gut, wenn Sie es niemandem erzählen würden.“

Sie nahm ihre Brille ab und musterte mich erstaunt. „Was ist es denn? Keine Angst, ich werde nichts sagen, solange ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann.“ „Das können Sie. Sie wissen, dass ich gestern gefehlt habe? Und sicherlich haben Sie auch von dem Busunglück gehört?“ „Ja, natürlich. Es stand ja in der Zeitung. Schrecklich, was da alles hätte passieren können! Aber zum Glück ist ja noch einmal alles gut gegangen.“ „Das ist es eben. Ich war bei dem Unfall dabei.“ „Sie?“ „Ja, ich. Und – Sie haben doch sicher auch gelesen, dass ein dritter Mann verschwand?“ „Ja, das habe ich. Eine äußerst mysteriöse Angelegenheit.“ „Dieser dritte war Lou. Er hat erst den Fahrer und mich aus dem Bus geholt und ist dann einfach abgehauen.“

Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Verblüfft hörte sie mir zu. Dann bat ich sie: „Könnten Sie mir vielleicht Lous Adresse geben? Ich würde gerne wissen, ob er dort ist und wie es ihm geht.“ „Natürlich gebe ich sie Ihnen! So was!“

Sie schrieb mir die Adresse auf und beurlaubte mich, weil ich bemerkte, mir ginge es immer noch nicht besser, für den Rest des Tages. Und als ich dann sagte, dass ich nicht wüsste, wie ich nach Hause kommen sollte, ließ sie sich nicht davon abbringen, mir auch noch ein Taxi zu rufen.

Auf einmal gefiel sie mir außerordentlich gut. Nett hatte ich sie zwar vorher auch schon gefunden (obwohl ich mir das natürlich niemals hätte anmerken lassen), aber sie war eben immer nur meine Deutschlehrerin gewesen. Plötzlich war sie ein Mensch geworden.

 

Zufrieden machte ich mich dann auf den Weg. Allerdings nicht nach Hause, sondern zu Lou.

Wenn ich erwartet hatte, eine prunkvolle Villa oder etwas ähnliches vorzufinden, hatte ich mich gründlich geirrt. Eher das Gegenteil war der Fall.

Lou wohnte in einem abgeschiedenen Teil der Stadt, gar nicht einmal so weit entfernt von uns. Seine Wohnung war in einem schmalen, mehrstöckigen Haus, mit einer vom Alter gedunkelten Fassade und symmetrisch angelegten Fenstern in breiten Holzrahmen.

Die schwere Eichentür war nur angelehnt. Ich betrat das Haus und stieg langsam die dunkle Treppe hinauf. Es war angenehm kühl im Flur, wie es bei solch alten Häusern ja sehr oft der Fall ist.

Auf jeder Etage las ich die Schilder an den Türen, fand aber erst im dritten und letzten Stockwerk eines, auf dem kein fremder Name zu sehen war, sondern nur ein Klebeband, das einen alten Schriftzug verdeckte. Ich beschloss, einfach zu hoffen, dass es die richtige Wohnung war.

Zögernd klingelte ich. Es dauerte etwas, dann hörte ich schwere Schritte kommen. Die Tür ging auf und ich sah einen etwa 40jährigen Mann, der ebenso fremdartig gekleidet war wie Lou. Da wusste ich, dass ich wenigstens an der richtigen Tür stand.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte der Fremde mit einer leichten Verbeugung. „Ich – ich wollte nur wissen, wie es Lou geht,“ stammelte ich irritiert. Der Mann verunsicherte mich. Zwar war sein Tonfall völlig normal, freundlich und höflich, doch er wirkte auf mich irgendwie suspekt. Etwas Unberechenbares schien aus seinem Blick zu sprechen. Ich konnte selbst nicht sagen, woher das kam.

Heute weiß ich, dass dieser Mann mir unter Umständen durchaus gefährlich hätte werden können. Sein Name war Remo und er war einer der ständigen Begleiter von Prinz Raben. Sein ganzes Leben hatte er schon in dessen Diensten gestanden. Ich möchte gar nicht wissen, was er alles für seinen Prinzen getan hat. Es müssen viele blutige Taten darunter gewesen sein, alle begangen, um den Prinzen und seine Familie vor Gefahren zu schützen. Remo war absolut loyal und das machte ihn für alle Gegner des Prinzen zu einem erbitterten Feind.

Die Scheu, die ich jetzt verspürte, blieb mir auch später noch eine ganze Weile erhalten. Über Jahre hinweg dachte ich jedes Mal, wenn ich diesen stillen, ergebenen Mann, der nie Kritik übte, oder sein freundliches Lächeln sah, daran, wie viel Blut wohl schon an seinen Händen kleben, wie viel Schuld er wohl schon auf seine Schultern geladen haben mochte.

„Es ist schon gut, Remo! Hallo, Dimitri.“ Lou trat hinter den Mann, der ihm sofort Platz machte. In der Tür stehend lächelte er. Er wirkte beinahe etwas verlegen, aber Verlegenheit hätte nicht zu ihm gepasst. Nur wusste ich das damals noch nicht und interpretierte ihn deshalb wohl falsch.

„Hallo, Lou.“ Er sah blass aus. Seine rechte Hand war dick verbunden und auf seiner Stirn klebten drei Pflaster. Aber sonst schien es ihm einigermaßen gut zu gehen. Das beruhigte mich etwas.

„Oder Lou Tibeht?“ „Nein, nur Lou. Komm doch rein.“ Seine Stimme klang heiser. „Gerne.“ Ich nickte und betrat die Wohnung. Sie war nichts besonderes, aber gemütlich. Es gefiel mir sofort.

Im Flur hing ein großer Spiegel an der einen Wand, darüber eine hölzerne Garderobe. An den zwei anderen Seiten waren drei Türen, eine, wie ich sehen konnte, zur Küche, daneben eine zum Badezimmer, und eine letzte, die ins Wohnzimmer führte.

Durch diese folgte ich Lou jetzt. Er bedeutete mir, mich auf einen Sessel zu setzen und ließ sich selbst auf das Sofa fallen. Dort streckte er sich lang aus und legte sich einen Eisbeutel auf die Stirn.

„Du musst entschuldigen, aber ich kann im Moment nicht so lange auf sein. Auch nicht sitzen.“ Er lächelte und machte mit seiner Hand eine vielsagende, kreisende Bewegung in der Nähe seines Kopfes. Etwas verunsichert blieb ich stehen.

„Ich wollte dich nicht stören.“ „Du störst mich nicht. Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken? Wasser? Cola? Oder Tee? Kaffee vielleicht? Ich könnte dir auch ein Bier anbieten, aber ich glaube, für Alkohol ist es noch etwas zu früh.“ „Ja. Aber Wasser wäre wirklich gut. Danke.“ „Kein Problem.“ Er wollte sich erheben, um die Getränke zu holen, wurde aber von Remo, der plötzlich vor ihm stand, zurückgehalten. „Was wünschen Sie zu trinken, Amir?“ Da ließ Lou sich wieder zurücksinken. „Ich möchte bitte auch ein Glas Wasser.“ „Sehr wohl.“

Jetzt setzte ich mich und beobachtete, mehr aus Verlegenheit als aus Neugierde, wie Remo verschwand und gleich darauf mit zwei Gläsern wiederkam. „Danke.“ Während er sich verbeugte, trat er zurück. „Ich werde im Nebenzimmer sein, wenn Sie noch etwas brauchen, Amir!“ „Ist gut, Remo!“

Er verließ den Raum und Lou sah mich ernst an. „Was kann ich für dich tun, Dimitri?“ Nervös spielte ich an den Knöpfen meiner Jacke herum. Wie sollte ich es sagen? Und was sollte ich sagen? Ja, was wollte ich denn eigentlich hier? Und überhaupt – wie sollte ich ihn ansprechen? Mit ‚Prinz’? Oder mit ‚Amir’, wie dieser Remo es anscheinend tat?

Alles in mir sträubte sich dagegen. Schließlich war ich weder Lous Untertan noch sein Diener. Also beschloss ich, ihn ganz normal zu behandeln. So normal eben, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.

„Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich schätze, du hast mir das Leben gerettet. Das war – ich weiß nicht, ob ich das auch gekonnt hätte.“ Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Du bist nicht raus gekommen. Da musste ich halt rein. Vergiss es.“

Kurz glaubte ich zu verstehen, dass sein Leben ihm egal war. Dass er das Schicksal herausforderte. Und kurz machte es mir Angst.

Dann wieder lächelte er. Ich versuchte, nicht darauf zu achten, denn ich merkte, dass es mich erneut in seinen Bann ziehen wollte. Genau wie schon bei unserem ersten Treffen.

Schnell sah ich zu Boden. „Das kann ich zwar nicht einfach so, aber gut. Kein Wort mehr davon, wenn du nicht willst. Okay. Aber wieso bist du abgehauen? Ich denke, du hättest ein bisschen Hilfe auch gut brauchen können.“

Er runzelte skeptisch die Stirn. „Um dann in ein Krankenhaus gebracht zu werden? Nein, danke! Außerdem ging es mir ja auch gut.“ „So sah es aber gar nicht aus. Du hast geblutet. Und konntest nicht richtig auftreten. Und hast garantiert auch ziemlich viel Rauch eingeatmet. Genau wie ich. Das war schon verdammt riskant!“

Er verdrehte die Augen und fuhr sich, wie unter plötzlichen Schmerzen, mit der Hand an den Kopf. Das beunruhigte mich wieder, aber Lou sprach ungerührt weiter: „Komm, Dimitri, hör auf! Das durfte ich mir vom Prinzen schon anhören. ‚Lou, du bist der Thronfolger, du musst auf deine Gesundheit achten!’ Erst wollte er mich bei sich behalten. Aber das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich komme nach Ludwin um unabhängig zu sein, und dann wohne ich in der Villa des Prinzen. Nein danke! Dann haben wir uns schließlich darauf geeinigt, dass Remo mich begleitet. So, jetzt weißt du eigentlich alles. – Wie geht es dir?“

Heute wundere ich mich darüber, dass Lou mir so früh schon so viel von sich erzählte. Es passt nicht zu ihm, so etwas zu tun. Aber damals fand ich es völlig selbstverständlich. Ein anderer hätte es schließlich auch getan. Ich vergaß, dass Lou nicht ‚ein anderer’ war.

Verlegen sah ich zu Boden. „Gut, mir geht es gut.“ Wir redeten noch eine Weile über belanglose Dinge, dann verabschiedete ich mich schließlich.

Lou brachte mich noch bis zur Tür. Ich reichte ihm die Hand und nach kurzem Zögern nahm er sie an. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das eine Auszeichnung war. Mehr konnte ich von diesem Fremden nicht erwarten. Mehr Kontakt konnte wohl kaum jemand von ihm erwarten.

Auf der Treppe drehte ich mich noch einmal um und fragte, einer plötzlichen Eingebung folgend: „Sag mal, hättest du nicht Lust, am Samstag mit ins Kino zu kommen? Ich würde dir gern einen Freund von mir vorstellen. Kai.“

Er lächelte, wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag. Mir fiel auf, dass ich noch niemals jemanden getroffen hatte, der das so oft und so intensiv tat. Und es gefiel mir.

„Ins Kino? Klar, gern.“ „Gut. Dann bis morgen. Du kommst doch wieder?“ „Ich denke schon. Ist ja nur halb so wild. Also dann, bis morgen.“ „Ciao!“

 

Dieser Tag ist mir bis heute mehr oder weniger ein Rätsel. Ich kann nicht verstehen, wieso Lou sich so verhielt, wie er es tat. Schon alleine die Tatsache, dass er einem Wildfremden die Hand reichte, ist mir völlig unverständlich. Es gab schließlich einen Grund, warum er stets beide Hände verschränkte und sie unter den Ärmeln seines Hemds verbarg.

Lou ließ sich sonst nie einfach berühren. Er schreckte davor zurück und wich sorgsam jeder Gelegenheit eines Körperkontakts aus, sei es auch nur ein so kleiner wie ein einfacher, unverfänglicher Händedruck. Kaum jemand konnte etwas dergleichen von ihm erwarten, und mehr kam nur für sehr wenige Menschen in Frage.

Das alles hatte ich ja schon bei unserer allerersten Begegnung erfahren müssen. Und wie oft hörte ich später, in der ersten Zeit unserer Freundschaft, noch die Worte „Nicht anfassen!“ von ihm. Es ist nicht mehr zu zählen.

Man musste wirklich bereits Lous Freund sein, um nur alleine seine Hand berühren zu dürfen. Sonst wurde man selbst bei einer solch harmlosen, unverfänglichen Geste zurückgewiesen. Ich weiß nicht, warum das so war und ist. Ich weiß bei vielen Dingen, die Lou betreffen, nicht genau, woher sie kommen.

Aber ich weiß, dass in seinem Leben sehr viel schief gelaufen ist. Und das meiste davon lässt sich nicht mehr ausgleichen. Deshalb werden ihm auch nur sehr wenig Menschen zum Freund. Und ich bin stolz darauf, dass ich mich zu ihnen zählen darf.

 

Tja, und so änderte ich meine Meinung über Lou wieder. Am nächsten Morgen kam auch er wieder in die Schule und ich bat ihn, sich neben mich zu setzen. Er nickte zustimmend, packte seine Sachen und zog auf den Platz zu meiner linken. Ich blieb auf Kais Platz und überließ ihm meinen. Und dort blieb er auch an allen folgenden Tagen wie selbstverständlich sitzen. Weder er noch ich wollten etwas daran ändern.

Meine Mitschüler und meine Lehrer allerdings kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das hatte es noch nie gegeben, dass ich mich derart um einen Neuen kümmerte!

Sie konnten ja nicht wissen, dass dieser junge Mann einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben werden sollte. Ich selber wusste es schließlich auch noch nicht. Nur Dorle lächelte mir seit unserem Gespräch immer verständnisvoll zu, wenn sie uns zusammen sah.

Am Samstag stellte ich Lou dann meinem besten Freund Kai vor. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut und so wurde es ein wirklich lustiger Abend.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Mittwoch, 08. August 2007

Kapitel IV
Von dimitrikalaschnikov, 08:43

 

 

„If you want to, I can save you. I can take you away from here.”

Michelle Branch

----------------------------------------------------------------------------

 

Viel, viel später, es kam mir vor als sei eine kleine Ewigkeit vergangen, erwachte ich in einem weichen Bett. Ich öffnete die Augen und stellte fest, dass ich tatsächlich nicht geträumt hatte. Denn dies war eindeutig ein Krankenzimmer. Die Wände und die Decke waren weiß und bis auf eine Uhr völlig kahl. Es roch nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln, der typische Klinikgeruch eben.

Meine Eltern waren bei mir. Ich hatte nichts anderes erwartet. Selbstverständlich würden sie so lange am Bett ihres Sohnes sitzen, bis endgültig Entwarnung gegeben werden konnte. Und selbstverständlich waren sie sehr besorgt und durcheinander. Meine Mutter redete aufgeregt auf mich ein.

Gerade, als sie dabei angekommen war, sich Vorwürfe zu machen, weil ich mit dem Bus hatte fahren müssen, öffnete sich die Tür und ein Pfleger schob ein zweites Bett hinein.

Ich runzelte die Stirn. Mein Vater beeilte sich daraufhin, sofort zu versichern: „Du kommst gleich in dein eigenes Zimmer! Keine Sorge!“

Aber die Tatsache, nicht alleine zu sein, störte mich eigentlich gar nicht. Ich hätte im Gegenteil ganz gerne etwas Gesellschaft gehabt. Nein, ich überlegte nur.

Der neue Patient kam mir so bekannt vor. Aber ich konnte mich einfach nicht an ihn erinnern. Erst als ein Polizist hereinkam und den Mann nach ‚der Ursache des Unfalls’ fragte, wusste ich, dass es der Busfahrer war. Mit dieser Erkenntnis war ich zufrieden und wandte mich nun auch geistig wieder meinen Eltern zu.

„Mom, habt ihr Kai Bescheid gesagt?“ Meine Stimme kratzte. „Natürlich. Wir haben seine Eltern angerufen. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Sie haben ihn sofort abgeholt.“

Meine Mutter sprach auf mich ein, versuchte mich zu beruhigen und machte mich mit ihrer Angst nur noch nervöser und aufgeregter, als ich ohnehin schon war.

Also schloss ich kurzerhand die Augen und tat, als würde ich schlafen. Ich wollte nur noch meine Ruhe, nichts mehr hören und nichts mehr sehen.

„Ja, so ist es richtig, mein Schatz! Schlaf dich nur schön gesund! Wir werden morgen früh wieder kommen!“ Und dann gingen sie.

Ich aber behielt die Augen weiterhin geschlossen und lauschte. Der Busfahrer sprach gerade. „Mir wurde plötzlich schwarz vor Augen. Und dann stand dieser mutige junge Mann vor mir. Er zog mich vorne aus dem Bus heraus und brachte mich in Sicherheit. Der ganze Bus stand schon in Flammen. Aber dann sah er, dass der andere noch nicht draußen war. Er ging noch einmal hinein, ich konnte ihn nicht daran hindern. – Wo ist der Mann jetzt? Hat er alles gut überstanden?“ Der Polizist klang irritiert. „Wir wissen nichts von einem dritten Mann im Bus. Das war uns bis jetzt unbekannt.“

Lou war also schon draußen gewesen. Und dann noch einmal zurückgekommen. Warum? Vielleicht war er ja gar nicht so ein hochnäsiger Typ, wie ich gedacht hatte.

Plötzlich tat es mir Leid, ihn für arrogant gehalten zu haben. ‚Ohne ihn wäre ich jetzt wohl nicht mehr am Leben!’ schoss es mir durch den Kopf.

Ich hätte gerne noch mehr von dem Gespräch gehört, aber ein Pfleger betrat jetzt das Zimmer und schob mich mitsamt meinem Bett hinaus. Ich fragte ihn, was er da tue, und er antwortete mir: „Sie bekommen ein Einzelzimmer, damit Sie Ruhe haben.“ Aha. Das hatte wohl mein Vater veranlasst. Naja, er meinte es ja nur gut. Und ein bisschen Ruhe konnte schließlich auch wirklich nicht schaden.

 

In meinem neuen Zimmer angekommen lag ich da und starrte an die Decke. Alles war ruhig und ich lauschte dem leisen Ticken der Uhr über meinem Bett. Wirre Gedanken spukten mir im Kopf herum, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, einen zu fassen und bis zum Ende zu verfolgen.

Immer wieder tauchte eine Frage vor mir auf: Hätte ich das auch getan? Hätte ich auch den Mut gehabt, mein Leben zu wagen, um einen anderen zu retten? Einen Fremden?

Alles schien darauf hinaus zu laufen. Und ich konnte mir keine Antwort auf diese wurmende Frage geben.

Aber war es denn Mut gewesen? Oder Selbstlosigkeit? Selbstverachtung? Todesmut?

Plötzlich klopfte es, und ohne mein „Herein!“ abzuwarten, öffnete ein uniformierter Mann die Tür, sah sich noch einmal um und trat schnell ins Zimmer.

Dann kam er zu mir und nach einer kurzen Begrüßung begann er, mir eine Menge Fragen zu dem Unfall zu stellen. Wo ich gesessen hatte, wohin ich hatte fahren wollen, was ich von dem Unfall mitbekommen hatte.

Ich schilderte ihm alles, ließ aber Lou ganz außen vor. Schließlich wollte der Polizist noch wissen, ob ich den Mann, der mich aus dem Bus geholt hatte, erkannt hätte. Ich setzte gerade zu einer ausweichenden Antwort an, als es erneut klopfte und der Pfleger, der mir zugeteilt worden war, leise die Tür öffnete.

Er streckte erst nur den Kopf durch den Spalt hinein, ohne den Raum zu betreten, doch als er den Polizisten sah, kam er mit schnellen Schritten hinein und fuhr meinen ‚Besucher’ wild gestikulierend an: „Was machen Sie hier? Sie können doch nicht einfach so hier herein gehen! Das ist unverantwortlich! Sie wissen doch, Prof. Kalaschnikov hat persönlich angeordnet, dass niemand außer den Ärzten und dem Pflegepersonal dieses Zimmer betreten darf! Das wird ein Nachspiel haben, das verspreche ich Ihnen!“ Der Beamte zuckte nur mit den Schultern. „Ich bin hier jetzt sowieso fertig!“

Der Pfleger schob den Polizisten zur Tür und verschwand mit ihm auf dem Flur. Ich hörte sie noch eine Weile streiten und den Pfleger laut schimpfen. Dann wurde wieder alles still und ich schlief irgendwann ein.

[Kommentare (1) | Kommentar erstellen | Permalink]


Dienstag, 07. August 2007

Kapitel III, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 08:30

 

Während der ganzen Stunde sagte der Neue keinen Ton mehr. Und als ich versuchte, von ihm mehr über seine Heimat und sein Leben zu erfahren, gab er nur sehr gemessen Antwort und beschränkte sich darauf, in seinem seltsamen Ton die Informationen zu wiederholen, die ich ja ohnehin schon mitbekommen hatte. Tja, und das war’s dann auch schon. Obwohl ich lieber mehr von ihm gehört hätte.

Als die Stunde endlich vorbei war, erinnerte ich Fräulein Dorle daran, mit dem Hausmeister zu sprechen, woraufhin sie genervt, aber auch irgendwie belustigt stöhnte und dann mit Lou verschwand.

Ich widmete mich angesichts dieses offensichtlichen Sieges wieder völlig meinem Amt als „König“, wie Dorle sich so schön ausgedrückt hatte. Ich rief Leon und Max zu mir und beriet mich mit ihnen. Es galt, die „Begrüßung“ zu planen. Und außerdem stand unser alljährliches Sommerfest, das gleichzeitig auch der Abschluss des ersten Halbjahres war, kurz bevor. Wir wollten, wie immer, bei mir im Garten feiern, und Leon hatte es übernommen, Einladungen zu organisieren.

„Also, die Party steigt am 30. Am besten, wir fangen dieses Mal schon um 20:00 Uhr an. Pennen könnt ihr dieses Jahr aber nicht wieder bei uns im Garten. Da habt ihr zuviel kaputt gemacht. Ich kümmere mich dann um einen guten DJ. Noch Fragen? Gut, dann ist ja alles klar! Ach, und Leon, vergiss nicht, für Kai auch drei Einladungen zu machen! Du weißt ja, er bringt sich dann wieder zwei seiner Freunde mit. Und was den Neuen, diesen Lou betrifft....“

„Achtung!“ wurde ich unterbrochen. Und kurz nachdem dieser Warnruf erschollen war, betrat der Hausmeister, ein kleiner, dicker Mann, ächzend den Raum. Er trug einen Tisch, auf dem ein Stuhl stand.

Schwer atmend setzte er seine Last jetzt ab und wischte sich mit seinem Taschentuch das Gesicht ab. Hinter ihm betrat Lou die Klasse. Er hielt die Hände noch immer gefaltet und beim Gehen gleitete er auf eine seltsame Art vorwärts. Das Bild einer Katze, die sich auf leisen Pfoten fortbewegt, drängte sich mir wieder auf. Angesichts dieses Katers wäre ich wahrlich nicht gerne eine Maus.

„Aber das hätten Sie doch nicht tun brauchen! Ich hätte Ihnen doch helfen können!“ sagte der Neue jetzt ruhig, aber bestimmt zu unserem Hausmeister. Hatte der ihm wirklich den Tisch samt Stuhl hier herauf getragen, in den dritten Stock? War der Hausmeister etwa krank? So etwas war noch nie vorgekommen!

„Nein, nein, Prinz Lou, das war doch kein Problem! Wenn ich Ihnen noch irgendwie helfen kann, sagen Sie es nur!“ Er machte einen tiefen Bückling und auch Lou verbeugte sich leicht. Dann verschwand der Hausmeister schweratmend und ließ uns alleine zurück.

Ich befürchte, ich habe nicht gerade ein geistreiches Gesicht gemacht. Ich habe wohl im Gegensatz eher ziemlich verdattert dreingeschaut. So zuvorkommend war unser alter Hausmeister nie zu einem von uns gewesen.

 

Nach den ersten beiden Stunden war ich noch immer nicht mit mir im Reinen, was ich von dem Neuen denken sollte. Einerseits gefiel er mir ganz gut. Er hatte sich weder als besonders strebsam noch als übermäßig klug gezeigt.

Er war ruhig gewesen und hatte dem Unterricht seine volle Aufmerksamkeit geschenkt, sich jedoch nicht ein einziges Mal zu Wort gemeldet. Nur als er von Herrn Andersen in der zweiten Stunde nach einer mathematischen Formel gefragt wurde, gab er knapp und nüchtern Antwort. Mehr von seinem Wissen ließ er nicht sehen.

Andererseits wirkte das Verhalten des Neuen etwas arrogant auf mich. Aber was machte ein bisschen Hochmut schon? Jedem das Seine. Nur mochte ich es nicht, dass er so anders war als wir. Er war zu erwachsen. Er würde sich nicht so ohne weiteres in unsere Gemeinschaft einfügen.

Ich wog das Für und Wider meiner Sympathie für den Neuen ab, konnte aber zu keinem klaren Schluss kommen. Nur eines war klar: Ich musste ihn gut im Auge behalten!

 

In der Pause traf ich mich wie immer mit Kai. Er kam mir sprichwörtlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen.

„Hey, Alter!“ begrüßte ich ihn. „Was ist los?“ „Hey, Mitja! Stell dir vor, ich war eben mit meinen Eltern beim Junker.“ „Ich weiß,“ nickte ich. „Hast du heute Morgen doch gesagt.“ „Hab ich? – ach ja, stimmt. Jedenfalls – sie haben mich abgemeldet und auch gleich alle Formalitäten geklärt – wann ich nach diesem Halbjahr wo zu welcher Schule gehen werde und so weiter und so fort. War wirklich interessant!“

Er hörte sich plötzlich sehr wütend an, und fuhr ironisch fort: „Ich wusste es ja selber noch nicht. Ist ja natürlich auch nicht so wichtig, dass ich es weiß! Naja – jetzt rate mal, wo ich die Schulbank drücken werde!“

Ich sah ihn verwundert an. „Keine Ahnung. Sag mal!“ „Da kommst du nie drauf!“ „Los, jetzt spann mich nicht so auf die Folter! Wo sollst du hin?“

Er beobachtete mich und versuchte zu grinsen. Das kannte ich. Es ging ihm verdammt dreckig. Er war sicher wütend, aber ich wettete hundert zu eins, dass er damit nur seine Enttäuschung, Angst und Traurigkeit überdecken wollte. Insgeheim bettelte ich: ‚Bitte, nicht so weit weg, nicht so weit!’

Und dann kam es: „Ich soll nach Seraph ins Justiz-Internat.“ Er sah mich unsicher an und grinste wieder zögernd. Ich fiel aus allen Wolken. Aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Er fuhr betont munter fort: „Du, das wird bestimmt super! In Seraph ist es ja ein paar Grad wärmer als hier. Und für meine Sprachkenntnisse ist der Wechsel sicher auch echt gut! Wegen dem mehrsprachigen Unterricht. Und außerdem haben die da sogar einen eigenen Pool und auch Sportplätze und so. Das ist doch echt super, oder?“

Er sah mich so komisch an, richtig verzweifelt. Ich wollte mit dem Fuß aufstampfen, erinnerte mich aber Gott sei Dank gerade noch rechtzeitig an meinen Gips, und ließ es deshalb lieber bleiben. Stattdessen warf ich meine Krücken auf den Boden und knurrte: „Scheiße, verdammte Scheiße!“ Es ging mal wieder nicht anders. Ich konnte nie etwas für mich behalten. Außerdem – er wusste es ja selber.

Er hob meine Krücken wieder auf und drückte sie mir in die Hand. „Danke.“ Ratlos sah ich zu Boden. Aber nur kurz. Als Kai sprach, ließ die Art, wie er es tat, mich sofort wieder aufblicken. Er bettelte. Das hatte er noch nie getan. Noch nie in dieser Art.

„Sag mal, wir – wir bleiben doch trotzdem Freunde, ja?“ Ich hatte nicht vorgehabt, es zu tun, aber jetzt heuchelte ich ihm doch etwas vor. So gut es ging. Ich hatte das noch nie getan, aber jetzt musste es einfach sein.

Ich hoffte inständig, es würde klappen. Obwohl – was würde es schon ändern? Wir würden uns gegenseitig etwas vormachen. Denn jeder von uns wusste Bescheid. Aber vielleicht – vielleicht konnte jeder dem anderen glauben? Dann wäre es für beide einfacher. Manchmal tun Lügen gut.

„Komm, Junge, jetzt mach hier mal keinen auf ‚Abschied für immer’! Natürlich bleiben wir Freunde! Was macht die Entfernung schon aus, bei zwei Typen wie uns!?!“

Aber ich wusste, dass sie sehr wohl etwas ausmachen würde. Und ich sah, dass auch er es wusste. Wären wir nicht hier auf dem Schulhof gewesen, umgeben von anderen Schülern, hätte er sicher geheult. Und ich dann auch.

Seraph! Das war mindestens 500 Kilometer weit weg! Mir war klar, dass an dieser Strecke unsere Freundschaft über kurz oder lang in die Brüche gehen musste. Und ich konnte mir absolut nichts schlimmeres vorstellen, als dass sie auf diese Weise langsam starb. Dann wäre es besser gewesen, ich hätte ihn nie kennengelernt.

Ich hatte mir schon oft voller Angst vorgestellt, wie es wäre, wenn jeder von uns irgendwann einmal seinen eigenen Weg gehen würde, der ihn vielleicht weit weg führte. Was würde dann werden?

Eines stand fest: Ich würde viel vermissen. Voller Angst hatte ich daran gedacht, und immer wieder hatte ich diesen Gedanken erfolgreich verdrängt. Aber jetzt war er plötzlich höchst aktuell und die Gefahr real.

Ich wusste, wie es werden würde. Ich hatte es tausend Mal durchgespielt oder bei anderen miterlebt. Erst würde ich ihm in Briefen alles schreiben, was passierte, dann würde es zu kompliziert werden, ihn auf dem Laufenden zu halten. Er würde neue Freunde finden, und unsere Unterhaltungen würden sich auf das Wetter, unseren letzten Urlaub oder irgendwelches unwichtiges Zeug beschränken. Wir würden versuchen, in der Vergangenheit weiterzuleben, aber es würde uns nicht gelingen. Und dann wäre es endgültig vorbei mit mir und meinem besten Freund, meinem Blutsbruder.

Aber das konnte ich Kai unmöglich sagen. Es war so schon schwer genug, und merken würden wir es früh genug. Vielleicht war es einfacher, wenn keiner es aussprach, wenn wir beide uns unsere Illusionen bewahrten.

Also fügte ich noch schnell hinzu: „Und außerdem kommst du ja in den Ferien auch wieder zurück! In der übrigen Zeit können wir uns ja schreiben. Du wirst sehen, es wird eine tolle Zeit für dich in Seraph!“ „Kann schon sein, aber...“

Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, holte ich mein Geld aus der Tasche, drückte ihm etwas in die Hand und sagte übertrieben fröhlich: „Los, ich spendier ein Eis! Aber eines von den schön großen für mich, okay? Und deins darf natürlich auch nicht kleiner sein!“ Er grinste und ging dann kopfschüttelnd davon, um uns Eis zu kaufen.

Ich rechnete nach. Heute war der 19. Mai. Am 30. stieg unsere Party. Das war ein Freitag. Also war der Montag, an dem das neue Halbjahr anfing, der 2. Juni. Das hieß, wenn Kai am Sonntag fahren würde, hatte ich noch genau 14 Tage mit ihm, den heutigen eingerechnet.

‚Verdammt!’ Insgeheim verfluchte ich seine Eltern. Eigentlich mochte ich sie ja ganz gern, aber mussten sie denn meinen besten Freund ausgerechnet nach Seraph schicken? Hätte es nicht auch etwas hier in der Nähe sein können? Das wäre ja schon schlimm genug gewesen, aber jetzt Seraph! Und nur, weil man dort angeblich ja so gute Erfahrungen mit ‚leistungsschwachen’ Schülern hatte. Leistungsschwach! Kai konnte vielleicht kein Mathe, aber er war doch nicht dämlich! Verdammt noch mal!

‚Hoffentlich bleibt er überhaupt noch bis zum 30.!’ fuhr es mir durch den Kopf. Nein, er musste einfach bleiben!

„Hier, dein Eis!“ Erschrocken sah ich auf. „Äh, danke! Komm, wir setzen uns da auf die Bank!“ Kai nickte und setzte sich langsam in Bewegung.

„Sag mal, Kai“, fing ich vorsichtig an, „du bist doch zu unserer Party noch da, oder? Du weißt schon, unser Sommerfest am 30.“ „Ja, ich denke schon. Das heißt, ich hoffe es. Sicher ist bis jetzt nur, dass ich das nächste Halbjahr nicht mehr hier sein werde. Aber die Party werde ich schon nicht verpassen!“ „Super! Das wär ja auch kein richtiges Sommerfest geworden, wenn du gefehlt hättest! So, dann ist ja alles klar. Jetzt weiß ich nur noch nicht, was ich mit diesem Lou machen soll. Ich...“

„Lou? Welcher Lou?“ „Ach, das weißt du ja noch gar nicht! Lou ist ein Neuer. Irgend so ein Spinner, der behauptet, sein Vater wäre ein Prinz, und er hieße ‚von Ljuba’ mit Nachnamen und komme aus Ljuba. Und als Religion hat er Materismus angegeben. Verrückt, was? Und die Dorle hat ihm das auch noch abgekauft!“

„Aus Ljuba? Warte, da hab ich doch letztens was drüber gelesen... Das war auf so einem Flugblatt... Moment, irgendwo hier müsste es doch sein...“

Er kramte in seiner Tasche herum und zog ein zerknittertes und verschmiertes Blatt hervor. „Hier!“ rief Kai triumphierend und strich den Fetzen Papier vorsichtig glatt. Dann las er mir vor: „Heute Vormittag erhielten wir die Nachricht...usw., usw.,...dass Prinz Raben, der jetzige Herrscher in Ljuba, mit seinen Kindern für einige Zeit Ludwin besuchen wird. Der junge Prinz Lou Tibeht II...usw., usw.! Was hältst du davon!?! Dein Lou ist ein echter Prinz!“ „Meinst du, er ist es?“

Ich zweifelte noch immer. Doch Kai war schon Feuer und Flamme. „Aber klar! Oder heißt er nur Lou, ohne Tibeht?“ „Nein, Lou Tibeht stimmt schon.“ „Also! Das wär doch ein verdammt großer Zufall, wenn gerade jetzt im Moment zwei Männer, die sich Lou Tibeht nennen und aus irgendeinem kleinen Land, dass Ljuba heißt, hierher in unser noch kleineres Ludwin kämen!“

Wow! Dann hatte ich jetzt also einen echten Prinzen neben mir sitzen! Oder besser, sitzen gehabt. Ich hatte ihn ja weggejagt. Mensch, das war ja irre! Diese komische Nummer wurde ja immer merkwürdiger!

Aber dieser Lou sollte nur nicht denken, er würde hier bei uns eine Extrawurst bekommen. Nein, hier galt er so viel wie alle anderen auch! Und ein bisschen weniger als ich. Also würde ich den anderen lieber nichts von unserer Entdeckung erzählen. Sonst würden sie noch auf dumme Gedanken kommen.

 

So bildete ich mir meine erste Meinung über Lou. Ich dachte, er wäre verwöhnt, überheblich und arrogant. Musste er ja sein, schließlich war er ein echter Prinz, den in seiner Heimat alle mit ‚Hoheit’ anreden mussten und der später einmal ein ganzes Volk unter seiner Führung haben würde.

Also würde ihm die kleine Abreibung, die er morgen erhalten sollte, nicht schaden. Er konnte ruhig direkt merken, wo sein Platz war und dass sich hier niemand darum kümmerte, ob er nun ein Prinz war oder nicht!

 

Am gleichen Abend war ich mit Kai im Kino verabredet. Mein Vater und meine Mutter hatten Hochzeitstag. Sie wollten zur Feier des Tages in irgendein vornehmes Restaurant gehen. Ich hatte mich geweigert sie zu begleiten, und darauf bestanden, dass sie alleine fuhren. Deshalb konnten sie mich nicht zum Kino bringen, was meiner Mutter anfangs einige Kopfschmerzen bereitete.

Sie setzten mich an einer Bushaltestelle ab und sagten, sie würden mich in einer Bar, ganz in der Nähe des Kinos, wieder abholen, wenn sie auf dem Weg nach Hause wären. Mein Vater müsste allerdings vorher noch schnell in der Klinik vorbei fahren. Es könnte also etwas später werden, aber ich wäre ja nicht allein. Dann wünschten sie mir viel Spaß und fuhren davon.

Ich atmete auf. Endlich! Gut, dass sonst niemand an der Haltestelle stand. Diese zehnminütige Verabschiedung hätte peinlich werden können.

Der Bus hatte Verspätung. Ich musste noch weitere zehn Minuten warten, bis er schließlich kam. Er war völlig leer. Ich stieg ein und ließ mich auf einen Platz am Fenster fallen. Erst wollte ich mich wieder in die letzte Reihe setzen, wie ich es jedes Mal tat, wenn ich mit dem Bus fahren musste. Von dort konnte man immer so gut die anderen Leute beobachten. Aber der Bus fuhr relativ schnell los, und da war es mir etwas zu wackelig, um mit meinen Krücken den Gang entlang zu humpeln. Also blieb ich weiter vorne.

Ich sah auf die Uhr. Es war halb neun. Um neun hatte ich mich verabredet. Ich würde zu spät kommen. Naja, der Film fing ja auch erst um halb zehn an. Und Kai würde es schon verstehen, wenn ich mich verspätete. Er verstand so etwas immer. Außerdem war es ja auch nicht meine Schuld.

Der Bus war jetzt schon an drei Haltestellen vorbeigefahren ohne zu stoppen. Wenn das so weiter ging, konnte ich es vielleicht doch noch rechtzeitig schaffen.

Aber ich hatte Pech. Oder Glück, wie sich später herausstellen sollte. Der Bus blinkte und hielt an. Nur ein einziger Fahrgast stieg ein. Und dieser Fahrgast war ausgerechnet Lou. Ich wunderte mich etwas, dass er mit dem Bus fuhr. Hatte er keinen Chauffeur? Ich dachte, ein Prinz müsse einen haben.

Bis heute weiß ich nicht, warum Lou damals mit dem Bus gefahren ist, oder wohin er gewollt hat. Aber es war mein Glück, dass er es getan hat.

Lou musterte mich und nickte mir kurz zu. Dann setzte er sich, einige Reihen vor meinem Platz, hin. Er sagte nichts, und so sprach auch ich ihn nicht an.

Wir fuhren weiter, alles war ganz normal. Doch plötzlich passierte es.

Später hieß es in der Zeitung, der Busfahrer, ein etwas älterer Mann, hätte einen Schwächeanfall erlitten und so die Kontrolle über den Bus verloren.

Ich weiß nicht, ob das stimmt, oder ob er einfach nur müde gewesen und eingenickt ist. Wie auch immer, jedenfalls raste der Bus plötzlich in einer Kurve geradeaus weiter, brach durch die Begrenzung der Fahrbahn, schlitterte über einen staubigen Parkplatz, überschlug sich mehrmals und prallte schließlich gegen einen parkenden Lkw.

Ich wurde hin und her geschleudert, aus meiner Sitzreihe gerissen und endlich gegen das Seitenfenster geworfen. Dann wurde es schwarz vor meinen Augen.

 

Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass mich jemand an den Schultern hochzog. Es war furchtbar heiß und ich konnte kaum atmen.

Als ich die Augen vorsichtig öffnete, wurde ich von einem riesigen Flammenmeer geblendet. Die Sitze, Polster, Lehnen, einfach alles stand in Flammen. Überall war Feuer und dichte Rauchschwaden hingen in der Luft. Es stank unsäglich nach geschmolzenem Plastik.

Ich erspähte schemenhaft die Umrisse eines Mannes. An den weiten Ärmeln seines Hemdes, die mein Gesicht streiften, erkannte ich in ihm Lou. Er war es, der mich an den Schultern festhielt und gerade versuchte, mich aufzurichten. Dann sah er, dass ich die Augen wieder geöffnet hatte, und sagte: „Los, raus hier.“

Soviel Selbstbeherrschung, oder was sonst auch immer es gewesen sein mag, war mir unbegreiflich. Lou stand inmitten eines tödlichen Flammenmeeres, und er sagte diese Worte zu mir. Er war vollkommen gelassen. Als habe er keine Angst, keine Angst, verletzt zu werden, keine Angst zu verbrennen, keine Angst zu sterben. Er schrie nicht, keuchte nicht, hustete nicht. Es lag nicht einmal etwas Aufregung in seiner Stimme.

Während Lou so völlig ruhig blieb, war ich kurz davor, in kopflose Panik auszubrechen. Überall, wo ich auch hinsah, nichts als Flammen! Man konnte rein gar nichts sehen. Ich wusste nicht, wo vorne und wo hinten war. Ich spürte nicht einmal festen Boden unter mir. Wer würde in so einer Situation nicht die Nerven verlieren?

Aber das durfte ich nicht. Ich durfte mich jetzt nicht gehen lassen! Das war das einzige, was ich wusste. Es hämmerte in meinem Kopf immer wieder: ‚Bleib ruhig! Bleib ruhig!’ Und ich versuchte zu gehorchen.

Ich riss mich zusammen. Schließlich schaffte ich es mit Lous Hilfe auf die Beine zu kommen. Und als ich dann endlich stand und er mir eine Hand auf die Schulter legte, hatte ich mich plötzlich so weit beruhigt, dass ich beinahe vergessen hatte, dass der ganze Bus um mich herum brannte. Es spielte einfach keine Rolle mehr.

Lou deutete nach oben. „Da hinauf!“ Erst jetzt merkte ich, dass der Bus anscheinend auf der Seite lag.

Mir wurde schwindelig von dem vielen Qualm. Er brannte in meinen Augen und in meiner Lunge. Aber ich hatte keine Angst mehr. Es machte mir nichts aus. Ich wusste, mir würde nichts passieren. Und wenn doch – was machte das schon? Es klang für mich nicht mehr schlimm, sondern eher verlockend. Faszinierend.

Aber ich sollte nach oben klettern. Das hatte Lou gesagt. Klettern? Mit meinem Fuß? Zweifelnd versuchte ich ihn anzusehen. Meine Augen tränten.

„Es geht schon. Ich helfe dir. Warte!“ Damit stieg er auf die Armlehne des Sitzes. Warten. Gerne. Gar kein Problem!

Die Flammen und der Rauch wurden immer dichter. Ich konnte nicht sehen, was Lou tat, aber dann hörte ich Glas splittern. Er hatte die Fensterscheibe eingeschlagen.

„Vorsicht!“ kam es von oben. Irgendwas flog mir vor die Füße. Es war der Nothammer. Ich war versucht ihn aufzuheben und mitzunehmen. Aber ich tat es nicht.

Stattdessen lehnte ich mich etwas zur Seite. Was konnte da noch alles kommen? Ich versuchte, Lou zu beobachten, konnte allerdings kaum etwas erkennen.

Dann knackte es schließlich noch ein paar Mal, gefolgt von einem Scherbenregen, der neben mir nieder prasselte, und Lou sprang wieder zu mir herunter. „Los, rauf jetzt!“ Er gab mir Hilfestellung, und ehe ich mich versah, saß ich schon oben auf dem Dach, beziehungsweise der Seite des Busses. Das Metall war so unerträglich heiß, dass ich die Beine unterschlug und mich auf meine Füße setzte.

Ich war an der Luft. Ich konnte wieder atmen. Und auf einmal fühlte ich mich rundum wohl. Alles war ganz wunderbar. Ich war wirklich richtig glücklich. Die Tatsache, dass es da unter mir brannte und dass ich eben wahrscheinlich um ein Haar dem Tod entronnen war, rückte in unerreichbare Ferne. Ich hatte es vergessen.

Ich wusste nur noch, dass ich hier oben saß, die Sonne dort hinten unterging, der Himmel sich blutrot färbte und ich das alles sehen konnte.

Vielleicht hatte ich zu viel Rauch eingeatmet, vielleicht war ich auch nur durch die Aufregung und übermächtige Angst ein bisschen verrückt geworden. Jedenfalls wünschte ich mir, ewig so sitzen zu können. Nur hier sitzen und der Sonne zusehen, wie sie langsam starb. Das war so einmalig schön, und etwas anderes zählte für mich gar nicht mehr.

‚Vielleicht würde Lou das auch wollen,’ fuhr es mir durch den Kopf. Aber der Gedanke war nur unklar, denn mein Gehirn war etwas benebelt. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.

Lou? Meine Gedanken wanderten zu ihm hinunter. Ich wunderte mich darüber, dass er stark genug gewesen war, mir hier herauf zu helfen. So hatte er nicht ausgesehen. Ganz und gar nicht.

Langsam wurde es unangenehm. Es wurde immer schwerer, die heiße Luft zu atmen, und meine Füße brannten, als stände ich auf glühenden Kohlen. Auch mein etwas betäubter Zustand konnte das langsam nicht mehr überdecken. Ja, betäubt, das war ich. Das war alles an mir.

Die Hitze wurde unerträglich. Es war mir fast nicht mehr möglich, das Metall unter mir nur zu berühren. Wie in Zeitlupe sah ich, dass jetzt auch Lous Oberkörper aus dem eingeschlagenen Fenster kam. Durch den Rauch konnte ich ihn nur verschwommen erkennen, obwohl er direkt vor mir erschien.

Wie viel Zeit war vergangen? Wohl nicht sehr viel. Eine oder zwei Minuten vielleicht. Nicht mehr. Ich hätte Lou gerne gefragt, aber ich spürte, dass jetzt wahrscheinlich nicht der richtige Moment dafür war.

Lou zog sich ganz auf das Dach hoch und glitt neben mich. Er war auch draußen.

Ich hörte Sirenen, die lauter und lauter wurden. ‚Die Feuerwehr. Interessant. Lange haben die nicht gebraucht. Wer hat sie wohl gerufen?’ dachte ich.

„Und jetzt – springen!“ Lou stand auf und sah mich auffordernd an.

Ich aber starrte ihn nur regungslos an. Ich konnte einfach nichts anderes tun. Ich glaube, ich begriff nicht einmal wirklich, was eigentlich passiert war. Es war alles still und angenehm in meinem Kopf. Lous Worte drangen nur mit großer Verzögerung in mein Hirn vor.

Da packte Lou mich kurzerhand am Pullover und zog mich hoch. Ich wehrte mich nicht dagegen. Ich wunderte mich nur erneut, wie kräftig dieser schlanke, geschmeidige Fremde in Wirklichkeit war.

Als ich dann endlich stand, sah ich zwei Krankenwagen, die Polizei und auch die Feuerwehr auf den Parkplatz einbiegen. Ihre Blaulichter huschten über unsere Gesichter. Lous Miene war völlig regungslos. Das Feuer spiegelte sich flackernd in seinen Augen.

„Los!“ Er schob mich zum Rand. „Los!“ Ich begriff, was er von mir wollte, und gehorsam sprang ich hinunter in den Staub, wo ich hart aufprallte.

Plötzlich war ich völlig geschafft und blieb einfach liegen. Mein Fuß tat wieder höllisch weh und meine Lungen brannten fürchterlich. Es war, als hätte der harte, kühle Boden mir meinen Verstand, meinen Körper wiedergegeben.

Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, wenn ich mich jetzt auch nur bewegte, würde ich ganz einfach auseinanderfallen. Wie ein altes, verkohltes Stück Holz.

Ich dachte, Lou müsse sich ebenso fühlen, öffnete die Augen und erwartete zu sehen, dass er völlig erschöpft und zerschlagen neben mir lag.

Aber weit gefehlt! Ich sah viel mehr, dass Lou einfach aufstand, sich den Staub von den Kleidern klopfte und langsam verschwand. Er humpelte. Ich konnte es genau sehen. Aber ich hatte gedacht, er hätte sich mehr getan. „Also schwach ist er nicht. Und zerbrechlich auch nicht,“ murmelte ich in mich hinein.

Ich stützte mich auf meine Arme um mich aufzurichten. „Lou!“ wollte ich rufen. Aber ich hustete nur. Dann war er auch schon verschwunden. Vom Parkplatz weg, die Straße zurück. Er hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht.

Erschöpft ließ ich mich auf die Seite fallen, rollte mich etwas zusammen und schloss die Augen. Ich war nur noch müde, so unglaublich müde. Ich spürte das Brennen in meiner Lunge nicht mehr, und auch nicht, dass meine Augen tränten. Ich wollte einfach nur noch hier liegen und schlafen, mich ausruhen und die Welt Welt sein lassen.

Beinahe wäre ich tatsächlich eingeschlafen, doch auf einmal wimmelte der Unfallplatz vor lauter Menschen. Ärzte, Sanitäter, Feuerwehrmänner und Polizisten, alle liefen hin und her, blieben stehen, riefen einander irgendwelche Dinge zu. Es war unglaublich laut um mich herum.

Die Männer aus dem Rettungswagen knieten sich neben mich. Sie ermahnten mich immer wieder, wach zu bleiben, brachten mich schließlich in einen der beiden Krankenwagen und fingen an, mich zu untersuchen und zu versorgen.

Der zweite Krankenwagen stand direkt neben dem ersten, in dem ich lag. Ich hörte, wie er davon fuhr. Wir selber blieben stehen.

Ein Arzt sprach mit mir. Es klang, als wäre er unheimlich weit entfernt. Er kam mir irgendwie bekannt vor. Aber mir war so schlecht, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Alles, was ich verstand, war, dass auch wir ins Krankenhaus fahren würden. Und dass er mich mit meinem Namen anredete. Dann hustete ich nur noch und hörte und sah nichts mehr.

Erst später erfuhr ich, dass der Arzt Dr. Finn gewesen war. Er war einer der höhergestellten Ärzte in der Klinik meines Vaters. Er war mit Dad befreundet und auch schon einige Male bei uns zu Besuch gewesen. Daher kannte er mich.

Es war pures Glück, dass das Casa in dieser Woche den Notdienst übernommen hatte. In der Nachbarstadt gab es ebenfalls ein Krankenhaus, und die beiden Kliniken wechselten sich regelmäßig ab.

 

Als die Männer mich wenig später in die Notaufnahme schoben, presste einer mir ein Sauerstoffgerät ins Gesicht. Ich wollte es wegschlagen, aber ich bekam den Arm nicht hoch. Also musste ich alles Wohl oder Übel über mich ergehen lassen. Erschöpft schloss ich die Augen.

Jemand schüttelte mich und rief mir zu, ich dürfe nicht einschlafen. Immer wieder ermahnte er mich. Aber das kümmerte mich nicht mehr. Die Stimmen wurden leiser und leiser und ich schlief endlich ein.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Montag, 06. August 2007

Kapitel III
Von dimitrikalaschnikov, 07:48

 

 

„Seltsam im Nebel zu wandern.

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern.

Jeder ist allein.“

Hermann Hesse

----------------------------------------------------------------------------

 

Wir – das heißt, meine Klassenkameraden – waren gerade dabei, wieder halbwegs ordentliche und gleichmäßige Reihen zu bilden, als es höflich an die Tür klopfte. Die anderen ließen sich nicht stören. Nur ich sah zur Tür, weil ich ja doch nichts anderes zu tun hatte.

„Herein!“ rief Dorle. Die Tür schwang auf und hindurch trat ein vielleicht 21 Jahre alter Mann. ‚Schwul!’ schoss es mir sofort durch den Kopf.

Er war schätzungsweise 1 Meter 85 groß und als ich ihn sah, musste ich an eine Katze denken. Er wirkte zierlich und geschmeidig, wenn nicht sogar zerbrechlich und beinahe zart. Das Licht der Sonne, das den Raum durchflutete, spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Sie schienen es zu reflektieren und dadurch zu blitzen.

Ich traute mir durchaus eine gewisse Menschenkenntnis zu und wusste vom ersten Augenblick an: Dieser Mann war geheimnisvoll. Seine Miene schien versteinert zu sein, so unbeweglich war sie. Nicht einmal ein leises Zucken konnte ich beobachten. Und seine Haltung war ebenso unbeweglich. Wie eine Statue stand er, zwei Schritte hinter der Tür, im Raum.

Seine Kleidung vollendete das Mysterium, das ihn zu umgeben schien. Sie verbarg ihn wie ein Tuch, das die Statue vor ihrer Enthüllung verdeckt.

Seine Hose war aus dünnem Stoff, keine der üblichen Jeans, und weit geschnitten. Sie und auch das ebenso weite, völlig unmoderne Hemd verstärkten zusätzlich meinen Eindruck von einem zierlichen Körperbau.

Der Mann hatte dunkle, etwas mehr als schulterlange Haare, die in seinem Nacken zu einem Zopf zusammen liefen. Seine braune Hautfarbe verriet, dass er nicht aus unserer Gegend stammte. Um seine Augen lag ein entschlossener, aber auch ein bisschen trauriger Zug und seine Miene zeugte von Selbstbewusstsein und Intelligenz.

Ich war sofort unheimlich beeindruckt von dieser Gestalt, aber gleichzeitig machte sie mir auf eine gewisse Art Angst. Sie wirkte unnahbar und das war mir unheimlich.

‚Mensch, der sieht ja aus, wie – wie einer aus ‚1001 Nacht’! Toll!’ fuhr es mir durch den Kopf. Doch sofort wies ich diese Gedanken zurück. So ein Schwachsinn! ‚Toll’. Ich war doch nicht schwul! Brr! Ich schüttelte mich, als wollte ich etwas ekliges vergessen.

Dann sah ich den Neuen, denn das war er jawohl, wieder genauer an. Er hatte die Hände gefaltet und seine weiten Ärmel fielen so, dass man sie nur schwer erkennen konnte. Doch ich sah an seinem Finger einen breiten Ring funkeln.

Also wirklich! Ich hatte es ja gleich gewusst. Schwule erkannte ich sofort. Immer. Kein Zweifel. Und das in unserer Klasse! Naja, eigentlich hatte ich nichts gegen Homosexualität. Nur, so direkt in der eigenen Schulgemeinde.... Etwas komisch. Wie sollte man sich da verhalten?

Fräulein Dorle schreckte mich aus meinen Gedanken auf. „Guten Morgen!“ Auch meine Kameraden hatten es mittlerweile endlich geschafft, ihre Tische zurückzustellen, und sahen den jungen Mann jetzt neugierig an.

„Sie sind sicherlich der neue Schüler. Herzlich willkommen! Mein Name ist Fräulein Dorle.“ Ich hatte noch nie verstanden, wieso sie so darauf bestand, ein „Fräulein“ zu sein. War das für sie vielleicht so etwas wie eine Auszeichnung? Na, meinetwegen. Andere schämten sich dafür.

„Und das hier ist die Klasse 2 h. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich getrost an mich oder an Dimitri Kalaschnikov.“ Dabei deutete sie auf mich. Die anderen sahen mich an, waren gespannt, wie ich reagieren würde und erhofften sich irgendeinen Wink, der ihnen verriet, wie sie selbst sich verhalten sollten. Aber ich tat nichts.

Auch der Neue sah mich an. Ich grinste breit und nickte nur kurz und gnädig. Der Neue lächelte mir auf eine sehr merkwürdige Art zu und wandte sich dann an Fräulein Dorle, indem er ihren Gruß mit einem freundlichen Kopfnicken und einer leichten Verbeugung erwiderte. Die ersten Bewegungen, die er ausführte. Danach fiel er wieder in seine unbeweglich Haltung zurück.

Dorle fügte, nicht ohne eine gehörige Portion Ironie in jedes einzelne ihrer Worte zu legen, noch die Erklärung zu meiner Person bei: „Dimitri ist hier so etwas wie ein König. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Wenn sie also Fragen haben sollten...“

Der Neue sah mich noch einmal an, diesmal aber sehr erstaunt. Dann sagte er: „Ich bin sicher, unter diesen Umständen werden wir uns sehr gut verstehen.“

Ich runzelte die Stirn. Sollte das etwa eine Drohung sein? Wollte der Neue meine Position in Frage stellen? Das würde ich schon zu verhindern wissen!

Mit einiger Verzögerung stellte sich bei mir eine Befremdung ein. Doch woher stammte sie? Während ich den Fremden eindringlich anstarrte, versuchte ich angestrengt ihren Grund zu entdecken.

Und dann wusste ich es. Es war seine Sprechweise. Sie war anders als ich es je von einem Menschen gehört hatte. Seine Worte hatten geklungen, als würden sie gesungen werden. Nein, nicht wirklich gesungen, eher getragen von einer Melodie. Kein einschläfernder Rhythmus, der sich in seiner eintönigen Art immer wieder wiederholt und wie man ihn oft, besonders bei Nachrichtensprechern oder Lehrern, findet, sondern ein wellenförmiges Auf und Ab von Tönen und Betonungen, das einem Lied glich.

Fasziniert rief ich mir den Satz, den er gesagt hatte, ins Gedächtnis zurück und ließ ihn in meinem Kopf widerhallen. Ich hoffte plötzlich, er würde weiter sprechen. Es lag eine seltsame Harmonie in seiner Stimme, die es mir eiskalt den Rücken hinunter laufen ließ.

Irgendwie übte diese seltsame Ausdrucksweise des Neuen eine ungeheure Kraft auf mich aus. Sie pulsierte, glühte vor Wärme. Zeugte einerseits von Ruhe und Freundlichkeit, andererseits aber auch von Stärke. Die Kraft, die ihm körperlich zu fehlen schien, besaß er im Inneren. Merkwürdig faszinierend.

Ich wusste nicht, woran ich mit diesem Neuen war, und konnte ihn nirgendwo so richtig einordnen. Egal, wie lange ich ihn auch anstarrte.

Er drehte sich wieder von mir weg und Fräulein Dorle meinte: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werden wir Ihr Anmeldeformular jetzt direkt ausfüllen. Haben Sie Probleme damit, das vor Ihren Klassenkameraden zu tun, oder ist das in Ordnung?“ Er nickte nur stumm „Gut, dann wollen wir mal! Wie heißen Sie?“

Er verbeugte sich erneut leicht, hielt dabei die Hände noch immer gefaltet und sagte, wieder in dieser seltsamen Art: „Ich bin Lou Tibeht, Sohn des Prinz Raben.“ „Lou Tibeht. Wie Tibet, mit ‚h’?“ Er zog verständnislos eine Augenbraue hoch, antwortete dann aber doch: „Mit ‚h’.“ „Gut. Und weiter?“ „Sohn des Prinz Raben.“

„Mensch, deinen Nachnamen will sie wissen!“ raunte ich ihm zu und runzelte die Stirn. Ich war mir nicht sicher, ob er nun nur merkwürdig war oder einfach zu dumm um die Frage zu verstehen.

Der Neue drehte sich erstaunt zu mir um. „Meinen Nachnamen? Den sagte ich doch bereits. Ich heiße Lou Tibeht, Sohn des Prinz Raben von Ljuba.“ „Also ‚von Ljuba’ ist Ihr Familienname?“

„Wenn Sie möchten, könnte man es so ausdrücken.“ Als er lächelte, atmete Fräulein Dorle erleichtert auf. Dieser Lou Tibeht war ja wirklich eine harte Nuss! Ich hatte da so eine Ahnung, dass es reichlich schwer werden würde, ihn zu knacken. Wie leicht es mir im Nachhinein dann doch werden sollte, ahnte ich damals noch nicht.

„Und woher kommen Sie?“ „Ich komme aus Ljuba.“ Dorle runzelte die Stirn und sah ihn skeptisch an. „Aus Ljuba? Sagten Sie denn nicht eben, dass Sie ‚von Ljuba’ mit Nachnamen heißen?“

Der Neue erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln, das man nur als charmant bezeichnen konnte, und antwortete gelassen: „Das sagten Sie. Ich sagte, man könnte es so ausdrücken. Ich bin Lou Tibeht, der Sohn des Prinz Raben von Ljuba. Aber nennen Sie mich ruhig Lou.“

Sie stöhnte auf. Ich aber fand, dass die ganze Sache langsam richtig interessant wurde. Aufmerksam verfolgte ich den Rest des Gesprächs.

Der Neue begann jetzt, immer noch lächelnd, Fräulein Dorle den Sachverhalt zu erklären. „Mein Name ist Lou Tibeht. Mein Vater ist Raben, der Prinz von Ljuba. Dorther komme ich. Und deshalb ist der Name meines Vaters Prinz Raben von Ljuba und meiner Lou von Ljuba.“

Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie strahlte plötzlich. „Ah! Ich erinnere mich, dass Dr. Junker vor Wochen so etwas erwähnte! Aber er hätte sich auch ruhig etwas deutlicher ausdrücken können.“ „Das war unsererseits nicht erwünscht.“ „Ach. – Also kein eigener Familienname vorhanden?“ Er schüttelte verneinend den Kopf. „Gut.“

Das würde bestimmt noch eine irre Show geben mit diesem Neuen! Ein komischer Kerl. Ich gab meinen Freunden ein Zeichen, dass ich diesem Lou kein Wort glaubte. Der Sohn eines Prinzen. Öfter mal was Neues.

Doch während ich mich noch innerlich amüsierte, ging es schon weiter. „Würden Sie mir jetzt bitte Ihr Geburtsdatum nennen?“ „Ich wurde am Tag der 19. Eule im Jahre des Saphirs geboren.“ „Tag der 19. Eule?“ Er sah ihren beinahe verzweifelten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Ja. Ich denke, bei Ihnen wird man diesen Tag den 19. Dezember 42 nennen.“

Was? Er war erst 19 Jahre alt, genau wie ich? Sogar noch etwas jünger, wenn man es genau nahm. Aber das sah man ihm nicht an. Und das ärgerte mich unheimlich. Voll Neid musste ich mir eingestehen, dass er viel erwachsener und reifer wirkte als alle anderen aus meiner Klasse. Einschließlich mir.

„Also am 19.12.42. Gut. Welcher Religion gehören Sie an? Dem Christentum?“ „Christentum? Nein, ich bin Materist.“

Materist? Was war denn das schon wieder? Anscheinend hatte auch Dorle noch nichts davon gehört. Jedenfalls sah sie von ihrem Formular auf und erkundigte sich: „Materist? Gibt es so etwas? Ich habe noch nie davon gehört!“

Der Neue hob erstaunt eine Augenbraue und wich einen Schritt zurück.

„Materismus ist die Hauptreligion in Ljuba. Wo ich herkomme, leben nur Materisten. Dort gibt es keine Christen oder Buddhisten oder Muslime.“ „Gut, gut! Ich fürchte allerdings, Religionsunterricht im Materismus wird bei uns nicht angeboten.“

Er lächelte noch immer, und langsam begann es mich zu irritieren. Es zog mich so sehr in seinen Bann, dass mir ganz schwindelig wurde. „Das macht nichts. Ich werde auch so auskommen.“ „Das freut mich. Gut. Dann setzen Sie sich am besten erst einmal dort neben Dimitri.“

Was? Neben mich? Auf einen meiner Plätze!?! Auf – Kais Platz!?! „Fräulein Dorle, ich protestiere aufs Heftigste! Dies sind meine Plätze!“ Dorle stöhnte laut. „Dimitri, jetzt haben Sie sich doch nicht so! Es ist doch ansonsten kein Platz mehr frei!“

Sie machte eine abwehrende Bewegung. Doch ich war nicht bereit, so leicht aufzugeben. Obwohl es mir eigentlich nichts ausmachte, den Neuen eine Stunde neben mir zu haben. Zum Kennenlernen. Und solange es wirklich nur eine Stunde war. Aber es ging ums Prinzip. Und vor allem darum, dass niemals jemand auf Kais Platz sitzen würde! Niemals! Denn das wäre Verrat. Und ich würde ihn nie verraten. Egal, was kommen würde.

„Dann hätte man eben einen neuen Tisch in die Klasse stellen müssen! Ich denke, es war der Schulleitung wohl bekannt, dass heute ein neuer Schüler in unsere Klassengemeinschaft tritt!“ „Ich werde sofort nach dieser Stunde mit dem Hausmeister sprechen. Nur für diese eine Stunde! Und jetzt geben Sie bitte Ruhe!“

Ich zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich muss mich wohl im Angesicht der rohen Gewalt fügen. Doch nur unter Protest! Und ich hoffe, dass Sie Wort halten werden!“

Ich packte meine Sachen zusammen und schob sie auf den rechten, auf Kais Tisch hinüber. Lou beobachtete mich währenddessen interessiert. Schließlich kam er zu mir und verbeugte sich wieder kurz, wobei er sagte: „Ich wollte keine Umstände machen.“ Schon wieder lächelte er. Dann ließ er sich äußerst behutsam auf dem Platz neben mir, an meinem Tisch, nieder.

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte halblaut: „Nichts gegen dich. Es geht nur ums Prinzip.“ Er wich etwas zurück und schob meine Hand weg. Dann sagte er ebenso leise: „Nicht anfassen!“ Und als er meinen irritierten Blick sah, fügte er noch hinzu: „Nichts gegen dich. Es geht nur ums Prinzip.“ Verwirrt und beleidigt wandte ich mich ab.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Sonntag, 05. August 2007

Kapitel I
Von dimitrikalaschnikov, 08:46

 

 

„Es ist egal, was du bist, Hauptsache ist, es macht dich glücklich. Es ist egal, was du isst, Hauptsache ist, es macht dich dicklich. Lass dir bloß keinen Scheiß andrehn: das Leben ist schön!“

Farin Urlaub

----------------------------------------------------------------------------

 

Als ich am Montag das erste Mal wieder das Schulgebäude betreten sollte, hatte ich ein verdammt ungutes Gefühl. Wie weit wussten meine Freunde über meinen „Unfall“ Bescheid? Und über meine Trennung von Medea?

‚Gut, von ihr selber kann es ja niemand erfahren haben,’ beruhigte ich mich. Sie ging schon länger nicht mehr bei uns auf die Schule, und seit sie in die Nachbarstadt gezogen war, hatte sie auch keinen Kontakt mehr zu ihren ehemaligen Freunden. Außer natürlich zu mir. Aber damit war jetzt ja auch Schluss.

Früher hatte es mich immer gestört, dass Medea nicht mehr in Ludwin wohnte. Aber im Moment war mir das ganz recht. So musste ich nicht andauernd eine Begegnung mit ihr befürchten. Und ich konnte darauf hoffen, dass sie mit niemandem gesprochen hatte.

Ich atmete tief durch und öffnete mit Schwung die Tür, die in die Aula führte. Ich wollte gerade dynamisch und kraftvoll, mit großen Schritten, voller Selbstbewusstsein und vor allem auch mit einem Blick, der jedem sofort sagte, wer ich war (also eigentlich genau so, wie ich es immer tat) in das Gebäude schreiten, als ich mich plötzlich beinahe auf dem Boden wiederfand. Ich fluchte und wurde knallrot im Gesicht. Verdammt, jetzt hatte ich doch schon wieder meinen Gips vergessen! Peinlich, peinlich!

So schnell es ging sammelte ich mich wieder und sah mich hastig um. Glück gehabt! Keiner hatte mein kleines Missgeschick beobachtet.

Ich packte meine Krücken fester und humpelte los. ‚Das darf dir nicht noch einmal passieren, Dimitri!’ ermahnte ich mich selbst.

Ich merkte, dass mein Gesicht immer noch heiß und rot war, und blickte deshalb lieber zu Boden, während ich eilig durch die Aula humpelte.

Plötzlich schlug mit jemand von hinten auf die Schulter. „Hey, Mitja! Hast du’s so eilig? Alles klar?“ „Was?“ Erschrocken sah ich auf. „Ach, du bist es, Kai! Ja, alles klar, Alter! Und bei dir?“ „Tja, wie man es nimmt.“

Er ging langsam neben mir die Treppe hinauf. Mit meinen Krücken dauerte das zwar etwas länger, aber er wartete geduldig, bis ich eine Stufe nach der anderen gemeistert hatte.

Oben begleitete Kai mich über den Flur bis zu meinem Klassenraum, wobei er fortfuhr: „Der Förster hat wegen unsrem Mathetest ein totales Spektakel gemacht. Ich hab ne 6. Mann, meine Eltern hättest du hören sollen! ‚Und das nennt sich Privatschule! Eliteschule sogar! Und sie schaffen es nicht einmal, unserem Sohn die Grundregeln der Mathematik beizubringen! Bla, bla, bla!’“ äffte er, wurde dann aber plötzlich wieder ernst. „Schätze, das war’s dann wohl. Meine Eltern haben mich schon im Internat angemeldet, sagen sie. Und dieses Mal ist es ernst. Nicht wie sonst nur heiße Luft. Wir gehen gleich noch zum Direx. Dieses Halbjahr bleibe ich noch hier, dann bin ich weg. Die letzten 2 ½ Jahre sitze ich wahrscheinlich in irgend einem langweiligen Schuppen ab. Tja, so steht’s, Alter!“

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich war geschockt. „Komm, das schaffst du schon! Wär doch gelacht, wenn du nicht Schwung in diese Bude bringen könntest!“ Das war das einzige, was mir einfiel. Nicht gerade das Originellste, was in letzter Zeit aber häufiger vorkam.

Mittlerweile waren wir bei meinem Klassenraum angekommen. „Klasse 2 h. Mensch, das muss ein tolles Gefühl sein, in diesem Raum zu sitzen. Wenn ich mir überlege, dass ich jetzt eigentlich auch in der 2 sein müsste! 2 h hätte ich sowieso nie geschafft. Aber m bestimmt, wenn ich mich angestrengt hätte. Wow! Statt dessen bin ich jetzt in der 3 m. Super! Und auch das nicht mehr lange. Na, wir sehen uns nachher in der Pause, ja? Halt die Ohren steif!“ Und schon war er verschwunden. „Du auch, Kai.“

Ich hatte das dumme Gefühl, dass ihm die Sache mit dem Internat doch ziemlich schwer fiel. Und deshalb ging es auch mir mies. Mein Tag fing ja toll an. Gleich mit einer solchen Nachricht! Mein absolut bester Freund verließ die Schule. Was da wohl noch kommen würde?

Ich öffnete die Tür. Und zwar tat ich das vorsichtig, sehr vorsichtig. Man wusste bei unserer Klasse schließlich nie, was einen empfangen konnte, wenn ich mal nicht da war. Vielleicht ein rohes Ei, oder eine Schüssel Kreidestaub... irgendwas hirnloses, idiotisches.

Und richtig! Knapp vor meinen Füßen knallte eine prall gefüllte Wasserbombe auf den Boden und zerplatzte mit einem ekelhaften, schmatzenden Geräusch, wobei sie eine große Pfütze hinterließ und die Enden meiner Jeans bespritzte.

Ich seufzte. Diese Kindsköpfe! Die Falle mit der Wasserbombe auf dem Türrahmen war doch alt. Das war doch schon nicht mehr komisch sondern nur noch peinlich. Es wurde anscheinend Zeit, dass ich wieder das Ruder übernahm.

Eine solche Vorstellung war ja geradezu beschämend. Schließlich hatte ich in unserer ‚Gemeinde’, wie wir unsere Klasse nannten, sozusagen das Amt des Kriegsministers inne. Und die meisten ‚Opfer’ wussten das natürlich auch.

Wenn ich heute so zurückdenke, macht es mir Spaß, mich an meine vielen kleinen Streiche und Gemeinheiten zu erinnern, die ich ausgeheckt hatte. Es ist faszinierend, was ich mir damals alles ausgedacht habe. Gut, etwas albern war es schon, seine Lehrer als 19jähriger noch so zu triezen, wie ich es tat, aber wenigstens griff ich auf seriösere und ehrenhaftere Dinge zurück als Wasserbomben und Kreidestaub! Ich bevorzugte psychologische Kriegführung, nichts, wo jemand physisch zu Schaden kam. Ich war ein richtiger Mistkerl.

Jetzt, nachdem alle Gefahr vorüber war, betrat ich das Klassenzimmer und sah mich um. Sofort stürmten von allen Seiten meine Mitschüler auf mich zu. Alle redeten und schrieen aufgebracht auf mich ein, ohne dass ich auch nur ein einziges Wort in diesem Tumult hätte verstehen können.

Abwehrend hob ich die Arme. Dabei brauchte ich nicht einmal Angst zu haben, dass mir vielleicht die Krücken runterfallen könnten. Meine Leute standen so dicht um mich herum, dass selbst ein Blatt Papier den Boden nicht hätte erreichen können. Und sie versuchten, immer noch näher zu kommen.

„Ruhe!“ Sofort waren sie still. „So, Leon, jetzt erzähl mal! Was ist denn passiert?“ Leon war so etwas wie mein Stellvertreter, und außerdem noch einer meiner Vertrauten und besten Freunde.

„Heute kommt ein Neuer! Und der Junker hat uns höchst persönlich zwei Stunden Nachsitzen und eine gesalzene Zusatzklausur in Englisch angedroht, falls die Dorle sich beschwert, weil wir irgendwas zu seiner ‚Begrüßung’ arrangieren!“

‚Begrüßung’. Es war schon beinahe eine Tradition bei uns, jeden, der neu in unsere Klasse kam, mit einer netten Aufmerksamkeit herzlich willkommen zu heißen. Julian zum Beispiel bekam, als er in der 7. Klasse seinen ersten Schultag bei uns hatte, die ganze Klasse in Shorts und T-Shirts zu sehen. Obwohl im Klassenraum kaum 10 Grad herrschten. Seine merkwürdige Reaktion auf unsere Versicherungen, das sei hier so Vorschrift, amüsierte uns noch Wochen später.

Die Begrüßung gehörte also zu einem Neuen, wie das Amen zur Kirche. Ich runzelte die Stirn. „So? Eine Englischklausur? Tja, das ist übel. Ich denke, da müssen wir uns fügen.“ Theatralisch hob ich die Arme und seufzte tief auf.

Die Folge meiner Worte war eine sekundenlange Fassungslosigkeit. Dann plötzlich ging ein so unheimliches Geschrei los, dass ich dachte, mir würde das Trommelfell platzen.

Lachend bahnte ich mir jetzt einen Weg durch die Menge und schob mich auf meinen Platz zu. Die anderen folgten mir aufgebracht durcheinanderredend. Am lautesten ertönte die tiefe Brummstimme von Max. „Mitja, bist du verrückt!?! Das kannst du nicht machen! Ein Neuer, ohne Begrüßung! Das ist doch wie – wie Weihnachten ohne Geschenke! Oder wie eine Party ohne Musik! Das geht doch nicht!“

Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und rief: „Leute, jetzt hört mir doch einmal zu! Wollt ihr etwa nachsitzen?“ Das war das gute an meiner Stimme. Es konnte noch so laut sein, man hörte mich immer.

Das war auch jetzt so. Sofort verstummten alle, selbst die lautesten, und sagten dann kleinlaut und bedrückt: „Nein.“ „Na also! Oder wollt ihr einen Englischtest?“ „Nein, aber....“ „Nichts aber! Wenn ihr das nicht wollt, dann müsst ihr auf mich hören! Lassen wir den Neuen heute in Ruhe! Wohl gemerkt, heute! Morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Wir können ihn doch ‚begrüßen’, ohne dass es eine ‚Begrüßung’ ist. Und wie soll die Dorle sich beschweren, wenn sie in der Stunde gar keinen Unterricht bei uns hat? Morgen in der ersten wäre es der Andersen. Also gar keine Gefahr! Außerdem wissen wir dann auch, mit wem wir es zu tun haben! Verschieben wir es eben! Wen stört das schon? Ob heute oder morgen, das ist doch wohl egal! Für heute wäre es doch sowieso zu spät gewesen!“

Ein Raunen ging durch die Klasse. Überall sah ich frohe Gesichter. „Mitja, das ist eine super Idee! Echt toll!“

Insgeheim schüttelte ich den Kopf. Wie hatten solche Idioten es nur bis in die 2 schaffen können, und dann auch noch in die 2 h!?! Gut, sie waren allesamt halbwegs kluge Köpfe, aber über alles, was über den geforderten Unterrichtsstoff hinausging, mussten sie noch viel lernen.

Mit Stolz dachte ich daran, was sie wohl ohne mich machen würden. Ja, ich konnte wohl ohne zu übertreiben behaupten, dass ich der Kopf und der Initiator sämtlicher Organisationen und Veranstaltungen in dieser ansonsten völlig öden Klasse war. Nichts lief ohne mich.

Vielleicht war dieses Gefühl, gebraucht zu werden, auch der Grund für mein Verhalten zu Hause. Vielleicht wollte ich damals einfach auch einmal jemanden haben, der sich um mich kümmerte, mir jede Verantwortung abnahm und einfach für mich da war.

Denn, obwohl ich viel mit Leon und Max zusammen unternahm, wirkliche Freunde, so mit ‚durch Dick und Dünn’ und ‚gemeinsam Pferde stehlen’, waren sie nicht. Sie würden nicht zu mir halten, wenn es heißen würde: „Ich oder dein guter Ruf in der Klasse!“ Sie würden einen Rückzieher machen, wenn es darauf ankam.

Das wusste ich, und ich machte mir in dieser Beziehung auch gar keine Illusionen. Nur Kai würde immer zu mir stehen und für mich da sein. Ihn kannte ich auch schon seit 16 – nein, 17 Jahren, seit dem Kindergarten. Ich hoffte nur, das Internat würde an unserer Freundschaft nichts ändern. Hoffentlich war es nicht allzu weit weg...

Plötzlich erscholl ein kurzer Ruf, der mich aus meinen Gedanken riss. „Achtung, die Dorle!“ Sofort saßen alle auf ihren Plätzen und warteten, brav wie kleine Engel. Auf diesen Wachtposten an der Tür bestand ich schon seit der 11. Und er hatte sich wahrhaftig schon oft bezahlt gemacht!

Kaum hatte ich meine Sachen auf dem Tisch ausgebreitet, als Fräulein Dorle auch schon in die Klasse gerauscht kam. Sie stoppte erst an ihrem Pult. Es sah aus, als wäre sie ein Rennwagen, der mit voller Wucht gegen einen Baum rast.

Mühsam unterdrückte ich ein Lachen. Ich machte ein möglichst ernstes Gesicht und malte mir schon genau die nächste Szene aus. Jetzt würde sie sich gleich umdrehen, uns alle kritisch mustern und dann mit ihrer morgendlichen Strafpredigt loslegen.

Und ich hatte mal wieder Recht. Sie vollführte eine „elegante“ Kehrtwendung auf dem Absatz und rief, noch bevor sie mich überhaupt hatte sehen können: „Dimitri Kalaschnikov ist wieder da, habe ich Recht?“

Sie seufzte und drehte sich vollends um. Dann sah sie mich mit einem ergebenem Blick an. Sie streckte mal wieder die Waffen.

„Warum machen Sie das jedes Mal wieder, meine Herrschaften? Das ist doch albern!“ Sie machte einen so verzweifelten Gesichtsausdruck, dass alle laut lachen mussten. Nur ich blieb ernst. Es wäre gegen meine Würde gewesen, mich so undiszipliniert zu zeigen.

Also sagte ich in einem sehr gemessenem Ton: „Fräulein Dorle, ich verstehe gar nicht, was Sie meinen! Es ist doch alles ganz normal!“

Ich sah mich mit einer wahren Unschuldsmiene um, woraufhin die anderen noch mehr lachten. Ja, das konnte ich! Ich hatte ja auch lange genug dafür geübt.

Um zu verstehen, was hier vor sich ging, muss man wissen, dass meine zwei Tische in der Mitte des Raumes standen. Ich hatte diese zwei Tische aus vier ganz einfachen Gründen: erstens, damit ich meinen Mitschülern gegenüber etwas besonderes, ein Privileg, hatte; zweitens, weil ich zum koordinieren all unserer Vorhaben viel Platz brauchte; drittens, weil es mir Spaß machte und man die Lehrer damit in den Wahnsinn treiben konnte; und viertens, weil Kai früher an dem Tisch neben mir gesessen hatte und ich nicht bereit war, seinen Platz einfach zu vernichten, so als hätte es ihn hier in unserer Klasse nie gegeben.

Nun war es so, dass eigentlich, nach den Vorstellungen unserer Herren und Frauen Lehrer, die anderen Schüler mit ihren Tischen in Reihen vor, neben und hinter mir sitzen sollten. Doch dies war nie der Fall.

Jeden Morgen, wenn der erste Lehrer oder die erste Lehrerin die Klasse betrat, standen sämtliche Tische in einem Halbkreis um meine herum, so dass ich das Zentrum unserer Gemeinde bildete. Dadurch konnte mich jeder sehen und meine Zeichen verstehen. Antwortete ich nicht, so antworteten auch sie nicht. Ignorierte ich eine Anweisung, so taten sie es auch. So hatte es sich einmal eingebürgert, und so schien es auch bis ans Ende unserer Schultage bleiben zu wollen.

Doch das war ganz und gar gegen den Willen unserer sehr geschätzten Lehrmeister. Denn auf diese Weise waren sie praktisch jeder Intrige schutzlos ausgeliefert. Es war ein Kampf, der Ausdauer erforderte, und den keine der beiden Parteien aufgeben wollte.

Und so spielte sich jeden Morgen die gleiche Szene ab. Es war fast schon so etwas wie ein Ritual. Der Lehrer kam, stellte fest, dass alles so war wie immer, zeterte und schimpfte etwas, und zwang uns dann schließlich, die Tische zurückzustellen. Er hatte vordergründig gesiegt, doch sowohl er als auch wir wussten, dass es ihm nichts nützen würde. Am nächsten Morgen würde er wieder genau das gleiche vorfinden.

Und genauso machte es jetzt auch Fräulein Dorle. Da fühlte ich mich doch gleich wieder wie zu Hause.

 

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Samstag, 04. August 2007

Kapitel I, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 08:08

 

Unser Grundstück ist wirklich sehr groß. Der Garten ist größten Teils dicht bewaldet, und mitten hindurch fließt ein kleiner Bach, der in einen ebenso kleinen See neben dem Haus mündet.

Dieser Bach, der Mississippi, wie ich ihn früher einmal liebevoll getauft hatte, ‚spendet’ laut den zur Umsicht mahnenden Worten meines Vaters ‚den Bäumen und Blumen hier genug Wasser zum Wachsen und Gedeihen, und bietet außerdem einen natürlichen Lebensraum für viele verschiedene Tierarten. Er ist deshalb besonders wichtig für das Leben in unserem Garten, Mitja.’

Und es stimmt, auch wenn ich es anders ausgedrückt hätte. Aus diesem Grund sollte man eigentlich im Sommer sehr behutsam im Umgang mit dem Mississippi sein, um die brütenden Tiere nicht zu stören.

Aber damals, als ich mir meinem Weg durch das dichte Buschwerg und den matschigen Uferbereich schlagen musste, dachte ich gar nicht daran, auf irgendetwas oder irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Was interessierten mich die Bewohner des Mississippi schon angesichts meines eigenen Leids?

Ich scheuchte ein paar Enten auf, als ich laut fluchend über die kleine Holzbrücke hüpfte, um ins Haus und zu meinen Eltern zu gelangen.

Das war ein etwas komplizierteres Unterfangen, da es am Morgen geregnet hatte und demzufolge die Bretter der Brücke sehr glitschig waren. Ich erinnere mich noch genau, dass ich beinahe kopfüber in das kalte Wasser gefallen wäre. Aber ich konnte mich gerade noch an einem Ast festhalten und landete deshalb nur im Matsch am anderen Ufer.

Irgendwie schaffte ich es, mich wieder aufzurappeln und dann durch die Verandatür in unser Wohnzimmer zu kommen. Dort ließ ich mich erst einmal, so dreckig wie ich war, auf unser Sofa fallen und legte auch noch meine Füße hinauf.

Im Moment war mir alles egal. Medea war weg. Was störte mich da noch der Dreck? Mom konnte ihn später wegmachen. Außerdem tat mein Fuß schließlich immer noch höllisch weh! Ach ja, mein Fuß. Den hatte ich doch beinahe völlig vergessen. Wie absurd.

Ich holte tief Luft, öffnete den Mund und brüllte los: „Hilfe! Mom! Dad! Mom! Dad!“

Ich glaube, das ganze Haus wackelte, so laut schrie ich. Ich war mir sicher, dass meine Eltern sofort alles stehen und liegen lassen und schon zwei Sekunden nach meinem ersten Schrei bei mir sein würden. Das waren sie immer. Sofort bereit, mir beizuspringen, wenn irgendwas sein sollte. Natürlich. Und ich nahm es hin.

Sie waren ja immer so in Sorge um mich. Meine Mom war der festen Überzeugung, ich sei etwas ganz besonderes, und dieser Meinung schloss ich mich gerne an. Doch sie sagte auch, ich sei eine sehr tiefgründige Person, und das fand ich dann wiederum nicht so toll. Ich, tiefgründig? Warum nicht gleich schwul? Das war für mich beinahe das gleiche. Aber so etwas musste sie wohl glauben, schließlich war ich ihr Schätzchen, ihr einziges Kind.

‚Also,’ dachte ich, ‚warum sie nicht ein bisschen mit ihrer Angst ärgern und sich etwas bemitleiden und umsorgen lassen?’ Wenn sie nicht wollte, dass ich cool war, dann würde ich es eben auch nicht sein.

Ich weiß, mein Verhalten war albern, aber es passte zu meiner damaligen Verfassung. Ich war launisch. Ich wollte erwachsen sein, aber ich wollte auch die Privilegien eines Kindes behalten. Und ich wollte beachtet werden. Besonders jetzt, nachdem Medea mich verlassen hatte. Das war meine erste Reaktion.

Also schloss ich die Augen und schrie einfach weiter um Hilfe, stöhnte dabei auch öfter einmal vor Schmerz, was mir sehr realistisch gelang, worauf ich übrigens mächtig stolz war.

Ich jammerte und jammerte, obwohl meine Mutter mir längst beide Hände auf die Schultern gelegt hatte und mich kräftig rüttelte.

Wenn ich heute, fast 30 Jahre später, daran zurückdenke, wie ich mich verhielt, schäme ich mich regelrecht dafür. Schaut man sich diese Situation an, wie alt würde man mich schätzen? 7? Oder vielleicht sogar 12? Aber ich war damals schon 19! Ich lag als 19jähriger laut schreiend auf dem Sofa, weil ich mir weh getan hatte. Dass ich nach einem Arztbesuch keinen Lolli verlangte, war auch schon alles.

Und dabei schrie ich nicht einmal wirklich wegen meinen Schmerzen, sondern einfach nur, weil ich Aufmerksamkeit wollte und ein Ventil brauchte, um meine Wut und Traurigkeit loszuwerden. Und das wusste ich. Doch sie einfach offen einzugestehen, konnte ich nicht mit meiner Vorstellung vom Erwachsensein vereinbaren. Etwas verzwickt, aber mir damals durchaus einleuchtend.

Als meine Mutter mich endlich beruhigt hatte, erzählte ich ihr, ich sei gestolpert und könne nicht mehr auftreten, woraufhin sie mir sofort mit einem entsetzten „Gabriel!“ meinen Vater auf den Hals hetzte, der sich auf mich stürzte als sei er ein hungriges Raubtier und ich eine einfach zu fassende Beute, mich hochzog wie einen nassen Sack und meinen Arm um seine Schulter legte. Dann bugsierte er mich hinaus zu unserem Auto, wobei er mich mehr trug als dass ich selber ging.

Meine Mutter war schon draußen und hielt uns die Autotür auf. Sie hatte die Rückbank umgeklappt, und ich legte mich nun auch gehorsam darauf.

Mein Vater klemmte sich hinter das Lenkrad, und meine Mutter schlug nach einigem Zögern, ob sie sich vielleicht zu mir auf die Rückbank setzen sollte, die hintere Tür zu, stieg ebenfalls ein, und dann ging es auch schon los.

Während der Fahrt ins Krankenhaus fragte mein Vater mich aus, ob mir sonst noch irgendwas weh täte. Außer dem Fuß, natürlich. Er war der Besitzer und gleichzeitig der Chefarzt des Krankenhauses hier in Ludwin, des Casa, und da war es selbstverständlich, dass er selbst mich untersuchen würde. Er hätte die Gesundheit seines Sohnes niemals in fremde Hände gelegt.

Deshalb seine Fragen im Voraus, damit es nachher schneller gehen sollte. Als ich verneinte, atmete meine Mutter erst einmal erleichtert auf. Sie hatte sich schon das Schlimmste ausgemalt, angefangen von haufenweise Knochenbrüchen bis hin zu inneren Verletzungen.

Als mein Blick zufällig in den Spiegel fiel, der in die Kopfstütze des Fahrersitzes integriert war, erschrak ich. Ich konnte sie plötzlich verstehen. Über mein Gesicht zog sich ein schlammiger und blutiger Streifen. Es sah aus, als hätte ich mich mit Kriegsbemalung eingeschmiert.

Erstaunt sah ich zu meiner rechten Hand hinunter. Sie war blutig und in der Handfläche aufgeschnitten. Ich musste mich wohl vorhin an dem Ast verletzt und mir dann über das Gesicht gewischt haben.

Obwohl ich wusste, dass es nichts schlimmes war, bekam ich trotzdem plötzlich etwas Angst. „Mom, ich – ich blute!“ „Ich weiß, Schatz. Aber Dad kriegt das schon wieder hin. Noch 2 Minuten. Warte einfach ab!“ „Okay, Mom.“ Und schon war meine Angst wieder verflogen.

Wir erreichten kurz darauf die Klinik meines Vaters. Das erste, was meine Mutter dort tat, war, dass sie lauthals nach einem Rollstuhl verlangte. Sofort brachte ein Pfleger einen, in den ich mich dann setzen musste, oder setzen durfte, ganz wie man es sieht.

Langsam fing die Sache an, mir richtig Spaß zu machen. Mein Fuß tat kaum noch weh, der Schnitt in meiner Hand störte mich überhaupt nicht mehr, und es war einfach ein echt gutes Gefühl, zu sehen, wie sehr sich andere um mich sorgten. Besonders jetzt.

Also zog ich ein vor Schmerz verzerrtes Gesicht, schloss die Augen halb und stöhnte etwas gequält. Sofort wurde der Schritt meines Vaters, der mich in dem Rollstuhl schob, schneller.

Nur wenige Augenblicke später war ich auch schon beim Röntgen. Im Nachbarraum stand meine Mutter vor dem Glasfenster und lächelte mir die ganze Zeit über zu, was mich wohl aufmuntern sollte.

Da bekam ich ein schlechtes Gewissen und grinste zurück. Ich wollte gerade noch das Victory-Zeichen machen, aber jemand holte mich aus dem Raum.

Ein Arzt nähte meine Wunde (was ich völlig überflüssig fand), während die Röntgenbilder ausgewertet wurden. Das ging überraschend schnell, und schon kam mein Vater wieder zu mir.

Und was sagte er? Tatsächlich, mein Knöchel war angebrochen. War ja klar gewesen.

Aber eigentlich kann man nicht gerade sagen, dass ich den Gedanken, einen gebrochenen Fuß zu haben, so schrecklich fand. War doch mal was neues. Eine nette Abwechslung bei der Eintönigkeit, die seit einiger Zeit in meinem Leben herrschte.

Es war mir nur etwas peinlich, wie das alles passiert war. Wenn das einer meiner Freunde mitbekam! Nicht auszudenken! Vor meinem geistigen Auge sah ich schon die Überschrift in unserer nächsten Schülerzeitung:

‚Weil seine Freundin ihn nach zwei Jahren sitzen ließ, brach sich Dimitri Kalaschnikov vor Verzweiflung den Fuß!’

Also beschloss ich, lieber bei der „Stolper-Version“ zu bleiben. In der Schule konnte ich sie ja noch ein bisschen ausschmücken und dramatisieren....

Kai würde ich natürlich die Wahrheit erzählen. Er würde nicht lachen, und er würde auch nichts weitererzählen. Er würde gar nichts sagen, aber mir würde es besser gehen, weil ich mein Geheimnis teilen konnte.

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während mein Vater mir einen fachgerechten Gips anlegte. Dabei fragte er mich immer wieder, ob es mir gut gehe. Er machte sich anscheinend ernsthafte Sorgen, dass ich noch etwas hatte, von dem ich nichts sagte. Aber da war ja nichts.

Meine Mutter hielt meine Hand. Ich weiß auch nicht, warum sie es tat, aber ich fühlte mich dadurch noch ein bisschen besser.

Sie fragte mich, ob ich noch irgendwas brauchte. CDs vielleicht oder ein neues Computerspiel. Weil ich doch jetzt erst einmal einige Zeit zu Hause bleiben musste. Sie war wirklich besorgt.

„Nein, Mom, ich habe genug. Aber trotzdem danke!“ „Wenn du meinst, dass du nichts brauchst... Aber falls da noch irgendwas kommen sollte...“ „Sag ich Bescheid, natürlich, Mom!“

Ein richtiges Hochgefühl überkam mich. Wow! Das wurde ja immer besser! Vielleicht eine ganze Woche zu Hause bleiben. Keine Schule! Was meine Freunde dazu wohl sagen würden? Und Medea? Ach ja, Medea.

Sofort war meine gute Laune wieder verschwunden. Medea. Sie hatte mich einfach sitzen lassen. Sie hatte mich alleine gelassen. Verdammt noch mal!

Aber wer war sie denn, dass ich wegen ihr so ein Theater abzog? Dann musste ich eben ohne sie zurecht kommen. Schön! Ich würde schon was neues finden.

Jetzt besorgte ein Krankenpfleger mir erst einmal ein Paar schöne Krücken und einen Rollstuhl. Dann ging es wieder nach Hause, wo meine Mutter mir einen Liegestuhl in die Sonne auf unsere Veranda stellte und mein Vater mich hinein hievte.

Ich genoss es, so in der Sonne zu sitzen und nichts zu tun. Doch allmählich wurde mir langweilig. Und das schon am ersten Tag. Wie sollte das dann eine ganze Woche lang gehen?

Und wie immer, wenn mir langweilig wurde, musste meine Mutter es ausbaden. „Mom!“ rief ich. „Mom! Bringst du mir etwas zu trinken?“

Sie war in ihrem Arbeitszimmer, kam aber sofort raus. „Was möchtest du denn haben, mein Schatz? Cola? Oder Limonade? Oder vielleicht lieber einen schönen, kalten Saft?“ „Saft bitte, Mom!“ Sie brachte ihn mir und ging wieder rein.

Zehn Minuten schaffte ich es, mich mit meinem Orangensaft zu beschäftigen. Dann musste meine Mutter schon wieder herhalten.

„Mom, spielst du mit mir Karten?“ „Eigentlich muss ich noch etwas arbeiten...“ „Bitte!“

Sie sah mich an und ich wusste, dass ich gewonnen hatte. „Also gut. Heute ist ja ein Sonderfall! Da kann ich schon mal eine Auszeit nehmen. Warte, Mitja, ich hole das Spiel!“

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]


Freitag, 03. August 2007

Kapitel I
Von dimitrikalaschnikov, 13:16

 
Für alle Kais dieser Erde.
 
Nebeneinander im Gras
Nur der Himmel über uns
Kleine Wolken ziehen dahin
Wie Du
Mein Herz wird leicht
Ich sehe Dir nach
Und weiß, Du bist frei. 
 
Anatol, der mein Freund war.
 
 
 
Wie eine Blume blüht
Der, den man liebt
Und bin ich denn ein Gärtnersmann
Der aus der Fern nur schauen kann
So ist es doch mein Lebenssinn
Dass ich der Blume Hüter bin
 
 
A.P.
für
J.K.W.,
meine Blume
 
 
I
 
„Wie konnte ich so blind sein, wie konnt ich glauben ich kann sehn?“
Böhse Onkelz
----------------------------------------------------------------------------
 
Ich las.
Ludwin, den 04.05.62
Lieber Dimitri!
Wir sind jetzt seit zwei Jahren zusammen. Wir hatten viel Spaß und – wirklich, es war eine sehr schöne Zeit mit Dir! Aber ich finde, zwei Jahre waren lange genug. Ich brauche unbedingt etwas neues. Sei mir nicht böse, aber ich liebe einen anderen. Ich mag Dich, und ich möchte, dass wir Freunde bleiben! Also.....wenn das ginge, fände ich es sehr schön.
Wenn aber nicht, kann ich auch nichts daran ändern. Ich hab es versucht! Du brauchst auch gar nicht sauer zu sein. Wenn ich nicht Schluss gemacht hätte, wärst Du es irgendwann gewesen, der eine Neue hat. Und so etwas mag ich gar nicht, das weißt Du! Es passt mir besser, wenn ich den Zeitpunkt, wann sich etwas ändern soll, selber bestimmen kann. Und ich finde, nun ist es soweit! Tja, C`est la vie, wie die Franzosen so schön sagen!
Und denk immer dran: Es könnte schlimmer kommen, Mitja! Du wirst schon jemanden finden, der mich ersetzen kann. Naja, mich kann man ja eigentlich gar nicht ersetzen...
 
Deine Ex-Freundin
                                                            Medea
 
Es war wie in einer tragischen Szene eines dieser endlos überzogenen Filme. Es war herrliches Wetter. Ein wunderschöner Tag im Mai. Die Sonne schien von einem knallblauen Himmel herunter und es war angenehm warm. Die Vögel zwitscherten und die Schmetterlinge schienen zu Hunderten umher zu fliegen. Die Idylle war perfekt.
Auf einem Baum saß ein großer, pechschwarzer Rabe. Er wirkte wie aus einer fremden Schattenwelt, weit weg von dieser hellen Lichtung. Er saß da unbeweglich im warmen Sonnenschein und ließ, inmitten der süßen, ruhigen Idylle, sein raues Krächzen hören.
Plötzlich öffnete das Tier majestätisch seine breiten Schwingen und war mit ein paar kräftigen Flügelschlägen aus meinem Gesichtsfeld verschwunden, wie ein Schatten oder eine Wolke, die vorüberzieht.
Dann war der Film vorbei und ich wandte mich wieder meinem Brief zu, von dem ich für einen kurzen Moment aufgeblickt hatte.
Wütend und enttäuscht starrte ich ihn an. Das war es dann also gewesen. Zwei Jahre, und jetzt nur ein einfacher, kalter Abschiedsbrief. Das sah Medea mal wieder ähnlich! Ich sollte mir eine Neue suchen. Ein wirklich hilfreicher Rat!
Ich war sauer, so sauer wie schon lange nicht mehr. Und sie hatte sich vorher nicht einmal etwas anmerken lassen! Noch heute Mittag war alles völlig in Ordnung gewesen! Nichts hatte sie gesagt, nichts angedeutet.
Am liebsten hätte ich bei dem Gedanken an unser wohl letztes Treffen irgend etwas zerschlagen. Oder wenigstens jemanden angeschrieen. Ich kochte vor Wut. Wie konnte sie nur so – so – ich wusste auch nicht was sie war.
Langsam, aber unaufhörlich, bildete sich ein äußerst gefährliches, weil hoch explosives Gemisch in mir. Zu meiner Wut gesellte sich noch etwas anderes, etwas, was für mich noch viel schlimmer war: Ich hatte auch Angst. Die kalte Angst, alleine zu sein, saß mir im Nacken. Und beides zusammen war einfach zu gefährlich.
Um meiner Angst zu entgehen, konzentrierte ich mich deshalb ganz auf meine Wut und den einzigen Ausweg, den ich noch sah: Selbstmitleid. Ich badetet darin und versank im Schmerz. Ich fühlte mich von Medea äußerst ungerecht behandelt.
Was würde jetzt werden? Sie hatte mich wirklich eiskalt erwischt. Dieser Brief hatte mich so unvorbereitet getroffen, dass ich völlig orientierungslos war. ‚Aber das darf niemand merken. Niemals!’ schwor ich mir selbst. Und machte gleich darauf doch noch das Eingeständnis: ‚Gut, Kai vielleicht, aber sonst niemand!’
Theatralisch hob ich die Arme zum Himmel, ließ sie aber schnell wieder sinken. Was tat ich denn da? Wütend zerknüllte ich den Brief und schob ihn in meine Hosentasche.
Jetzt hatte sie es also schließlich doch geschafft! Sie hatte mich fertig gemacht. Mit einem einzigen, wohlgezielten Schlag hatte sie mich zu Boden gestreckt.
Ja, das war ich. Am Boden zerstört und rasend vor Wut. „Wie ein Alkoholiker, dem man gerade den letzten Schnaps vor der Nase weggeschnappt hat,“ hätte Kai jetzt vielleicht gesagt. Ja, das hätte von ihm stammen können. Ein etwas ungewöhnlicher Vergleich, aber durchaus zutreffend. Einen Moment lang wunderte ich mich, selbst darauf gekommen zu sein. Aber nur einen kurzen Moment lang.
Wütend ballte ich meine Hände zu Fäusten. Sie konnte mich also doch manipulieren. Mich, Dimitri Kalaschnikov, den Innbegriff des eigenen Willens, beeinflussen! Sie war also doch stärker als ich. „Wetten, dass ich es schaffe? Wetten, dass ich härter bin als du?“ hatte sie gesagt. Und sie hatte also wirklich Recht gehabt!
Ich zog den Brief wieder aus meiner Hosentasche hervor, nahm mein Feuerzeug und setzte ihn in Brand. Die Flammen fraßen sich schnell durch das Papier und ich sah dem Feuer dabei zu, wie es Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort vernichtete. Dann ließ ich die Asche zu Boden fallen.
Ein heißer Schwall Zorn überkam mich. Meine Wut wurde plötzlich so gewaltig, dass ich sie nicht länger kontrollieren konnte, und ehe ich richtig merkte, was ich tat, trat ich auch schon mit voller Wucht gegen den Stamm einer Eiche. Verdammt, tat das weh! Vor Schmerz hätte ich beinahe laut aufgeschrieen. Aber ich riss mich zusammen und fluchte nur. ‚Und das alles nur wegen Medea! Der Fuß ist bestimmt gebrochen!’ fuhr es mir durch den Kopf. Es gab kein Schimpfwort mehr, das meinen momentanen Hass noch hätte ausdrücken können.
Weiterhin laut fluchend humpelte ich zurück in das Haus, das ich mit meinen Eltern bewohnte und in dem ich auch heute noch lebe. Es ist eigentlich eher eine Villa als ein Haus. Groß und geräumig, mit vielen hellen Räumen, und gemütlich eingerichtet.
Im Erdgeschoss gibt es sieben Zimmer und eine große Halle, in deren Mitte eine breite Treppe nach oben führt. Dort, in der ersten Etage, hatten meine Eltern und ich damals unsere Schlaf-, Bade- und Arbeitszimmer, während unten die Küche, Bibliothek, das ‚Spielzimmer’ mit dem Billardtisch und dem Kickerkasten und Räume für unsere Gäste waren.
Natürlich gibt es auch ein Wohnzimmer, zu dem ich mich jetzt gerade durcharbeitete. Es hat große Fenster und eine breite Glastür, die auf die Veranda führt.
Dieses Haus war damals und ist wie gesagt auch heute noch mein Zuhause. Meine Eltern bauten es schon vor meiner Geburt. Meine Mutter, sie war Architektin, hat es selber entworfen, und mein Vater übernahm dafür das Anlegen des Gartens. Er war unheimlich stolz auf all die kleinen Ecken und Verstecke, die er sich überall eingerichtet hatte. Auf unserem riesigen Grundstück gibt es so viele von ihnen, dass ich als kleiner Junge tagelang nur damit beschäftigt war, sie zu suchen und in Besitz zu nehmen. Es war unser liebstes Spiel das zu tun und es dauerte Jahre, bis ich endlich alles entdeckt hatte.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]




Kostenloses Blog bei Beeplog.de

Die auf Weblogs sichtbaren Daten und Inhalte stammen von
Privatpersonen. Beepworld ist hierfür nicht verantwortlich.

 


Navigation
 · Startseite

Login / Verwaltung
 · Anmelden!

Kalender
« Mai, 2024 »
Mo Di Mi Do Fr Sa So
  12345
6789101112
13141516171819
20212223242526
2728293031  

Kategorien
 · Alle Einträge
 · Allgemeines (13)

Links
 · Kostenloses Blog

RSS Feed